Elben Drachen Schatten
verstand, was Nathranwen meinte.
»Für jeden von uns kommt in diesen Stunden der Augenblick des Abschieds. Ein Abschied von verlorenen Träumen, werter Branagorn.«
»Man kann nur wirklich Abschied nehmen, wenn man dazu innerlich bereit ist.«
»Und Ihr seid es nicht?«
»Das kommt darauf an, von welchem Traum Ihr sprecht.«
»Im Augenblick geht es darum, sich zwischen dem Traum von Elbiana und dem von Bathranor zu entscheiden.«
»Und? Habt Ihr bereits eine Entscheidung getroffen?«, fragte Branagorn. »Soweit ich weiß, seid Ihr noch in Athranor geboren und habt die Vision von den Gestaden der Erfüllten Hoffnung geteilt.«
»Ja, das ist wahr. Aber diese Vision ist bei mir inzwischen derart verblasst, dass ich anregende Kräuter verwenden muss, um mich überhaupt noch an ihr zu erinnern, werter Branagorn.«
»So seid Ihr bereit, diesen Traum aufzugeben?«
»Ihr nicht?«
Branagorn atmete tief durch. »Ihr wisst, dass ich viel zu jung bin, als dass ich die ursprüngliche Vision hätte teilen können …«
»Ja, man hat sich während der langen Seereise nicht der Mühe unterzogen, diese Vision zu erneuern. Das hätte eine erhebliche geistige Anstrengung bedeutet, zu der die Mehrheit der Elben nicht bereit war …«
»Und ich habe dies stets bedauert«, gestand Branagorn mit einem Lächeln auf den Lippen. »Und doch – obwohl ich zu jung bin, um diese von allen Athranor-Elben erlebte Vision teilen zu können, ist sie doch in mir, und das mit einer Intensität, die zeitweilig weitaus lebendiger ist als sogar bei vielen der alten Elben.«
Nathranwen hob die langen, leicht nach oben gebogenen Augenbrauen. »So seid Ihr gewiss eine bemerkenswerte Ausnahme unter den Seegeborenen. Wisst Ihr denn, warum der Traum von den Gestaden der Erfüllten Hoffnung derart lebendig bei Euch war – und offenbar noch immer ist, wenn ich das Ungesagte zwischen Euren Worten richtig zu deuten vermag?«
Branagorn schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte eine Erklärung dafür. Aber es war von Anfang an so.«
»Vielleicht, weil Ihr den geistigen Kontakt zu Euren Eltern und Großeltern suchtet?«, fragte Nathranwen, der sehr wohl bewusst war, das sie mit dieser Frage ein heikles Thema ansprach. Branagorns Eltern hatten sich gemeinsam dem Lebensüberdruss hingegeben und waren irgendwo in der Sargasso-See ins Meer gesprungen, nachdem sie eine Überdosis beruhigender Essenzen eingenommen hatten. Den kleinen Branagorn hatten sie zunächst ebenfalls mit sich nehmen wollen, sich dann aber im letzten Moment anders entschieden. Zwar waren sie in diesem Stadium des Lebensüberdrusses der Meinung gewesen, dass ein Elbenleben nichts als Schmerz und langsames und schier endloses Siechtum bedeutete, eine Aneinanderreihung von wehmütiger Trauer und Enttäuschungen angesichts des großen Ziels, das sich als unerreichbar herausgestellt hatte. Aber sie wollten die Entscheidung über Leben und Tod nicht für ein unmündiges Kind treffen und hatten ihn daher einer Elbin namens Férowen in die Obhut gegeben, die zu den wenigen Elbinnen gehörte, die sich Kinder wünschten.
In seiner Jugend war Branagorn immer sehr kränklich gewesen, weshalb Férowen häufig den Rat und die Hilfe der Heilerin Nathranwen in Anspruch genommen hatte. Mit Erfolg. Denn die Essenzen, mit denen Nathranwen das Kind behandelt hatte, waren sehr wirksam gewesen, und Branagorn war zu einem Krieger mit kräftiger Konstitution herangewachsen, dem niemand mehr ansah, dass er seinen Zieheltern dereinst Anlass zu großer Sorge gegeben hatte.
Seit dieser Zeit war die Heilerin für Branagorn eine wichtige Vertraute. Noch immer gab er viel auf ihr Urteil.
»An Eurer Vermutung könnte durchaus etwas dran sein, werte Nathranwen«, gestand er ein.
»Dennoch hat dies nichts zu tun mit Eurem Zweifel, ob Ihr Euch am Aufbau Elbianas beteiligen oder mit Fürst Bolandor weiter einer verlorenen Hoffnung folgen wollt.« Nathranwen hatte ihre Worte im Tonfall einer Feststellung gesprochen, nicht wie eine Frage, während sie Branagorn musterte.
»Woher wollt Ihr wissen, was mich bewegt?«
»Ich beobachte Euch.«
Branagorns Lächeln wirkte etwas gezwungen. »Und allein daraus zieht Ihr solche Schlüsse?«
»Ich bin Heilerin und keine Schamanin oder Magierin. Ich kann nicht auf den Grund Eurer Seele oder in Euer Herz schauen, Branagorn, aber ich glaube, dass Eure Zweifel irgendwie mit dem König zusammenhängen. Ich erkenne das an der Art, wie ihr ihn betrachtet.«
»Wie betrachte
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