Elben Drachen Schatten
ich ihn denn?«, fragte Branagorn mit leisem Spott in der Stimme.
Aber Nathranwen war es offenbar sehr ernst. »Mit einer Mischung aus furchtsamer Abscheu und Bewunderung. Aber Ersteres überschattet Letzteres deutlich.«
Branagorns Stirn umwölkte sich. »Ich glaube, es ist richtig, dieses neue Reich hier zu gründen …«
»Aber etwas lässt Euch zweifeln.«
»Ihr habt schon Recht, es hängt mit der Person des Königs zusammen. Ich sah ihn wie wohl sonst niemand. Und das macht mir Angst. Das Böse war in ihm, und ich weiß nicht, ob es noch immer Teil seiner Seele ist. Was, wenn es wieder hervorbricht?«
Branagorns Gesicht veränderte sich. Die Verstörung, die er in jenem Moment empfunden hatte, in der er Keandirs vollkommen schwarze Augen gesehen hatte, spiegelte sich für einen kurzen Moment in seiner Miene wider. Eine Dunkelheit, die das Böse selbst repräsentierte, hatte alles Weiße in den Augen des Königs getilgt.
Nathranwen schwieg zunächst. Sie atmete tief durch und sagte schließlich: »Ich kann Euch nur raten, folgt Eurem Herzen, Branagorn.«
»Ein kryptischer Rat. Eigentlich bin ich konkretere Hinweise von Euch gewöhnt.«
»Die bezogen sich allerdings auf die Gesundung Eures Körpers – und daran ist im Augenblick kein Bedarf, wenn ich das richtig sehe.«
Erneut erschien ein mattes Lächeln auf Branagorns Gesicht. »Glaubt Ihr, es gibt irgendwo in diesem Zwischenland ein Mittel gegen den Lebensüberdruss?«
»Ihr denkt an Cherenwen.«
»Gewiss tue ich das«, gab der junge Elbenkrieger zu.
»Es mag hier Kräuter gegeben, aus denen man Essenzen gewinnen kann, die den Lebensüberdruss vertreiben oder lindern. Aber für das beste Mittel gegen diese Krankheit halte ich das Zwischenland selbst. Eine große Herausforderung liegt vor uns allen, und jeder, der sie annimmt, wird von Neugier ergriffen, diese unbekannten Täler, Berge und Ebenen zu erforschen. Jede Herausforderung hat ein Ziel, jedes Ziel vermag dem Leben Sinn zu geben.«
»Wir hatten ein Ziel«, erinnerte Branagorn, »und dies waren die Gestade der Erfüllten Hoffnung.«
Nathranwen nickte. »Doch leider haben sich ausgerechnet die Gestade der Erfüllten Hoffnung erwiesen als eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen lässt. Dieses Land hier aber liegt vor uns, wir können es betreten, es berühren, es erobern und nach unseren Wünschen formen.«
»Ich merke, Ihr habt Euch bereits entschieden, Nathranwen ― was Eure Person betrifft.«
»Ja, das ist richtig«, gab sie zu. »Davon abgesehen erwartet die Königin Zwillinge und benötigt meine Hilfe. Ich könnte sie jetzt unmöglich im Stich lassen. Schließlich ist so eine Zwillingsgeburt ein nahezu einzigartiges Ereignis. Und ich nehme es als ein Zeichen.«
Branagorns Blick glitt zurück zum Meer, dorthin, wo die »Tharnawn« ankerte, auf der Cherenwen zurückgeblieben war. »Besteht die Möglichkeit, dass hier im Zwischenland ein Mittel gefunden wird, das in der Lage ist, den Lebensüberdruss zu heilen?«, wiederholte er seine Frage von vorhin. »Ihr seid Heilerin. Also müsstet Ihr dies beurteilen können.«
»Ehrlich, ich weiß es nicht. Doch was ich gerade sagte, meinte ich ernst: Womöglich ist dieses Land selbst schon ein Mittel gegen den Lebensüberdruss. Die Luft, der Wind, der Geruch von frischem Gras … Ich will Euch keine falschen Hoffnungen machen, Branagorn. Die Möglichkeit, dass es hier ein Kraut gegen den Lebensüberdruss gibt, ist zwar durchaus gegeben, aber Ihr müsst damit rechnen, dass es schwer zu finden ist. Für Cherenwen käme diese Hilfe mit Sicherheit zu spät. Also solltet Ihr Eure Entscheidung nicht auf dieser vagen Aussicht gründen.«
»Ihr sagtet doch, dass ich meinem Herzen folgen soll«, erwiderte Branagorn.
Sie nickte. »Ja, das stimmt.«
»Genau das werde ich tun.«
Nathranwen lächelte verhalten. »Das heißt, ihr werdet um Cherenwens willen hier in Elbiana bleiben.«
»Ja.«
»Das ist sehr romantisch«, sagte die Heilerin versonnen, doch dann wurde sie sofort wieder ernst und fügte hinzu: »Aber ich glaube nicht, dass es das Richtige für Euch ist. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es Cherenwen helfen wird.«
»Aber es ist meine Entscheidung«, erwiderte Branagorn.
»Ja, das ist es.«
»Und eins ist klar«, sagte Branagorn, »wenn Cherenwen die Reise nach Bathranor fortsetzt, wird sie mit Sicherheit sterben. Nur hier besteht die Möglichkeit, dass sie überlebt, so gering sie auch ist.«
»Und was ist mit Euch, Branagorn?«,
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