Elben Drachen Schatten
jegliche Orientierung verloren hatte.
Aber die Zeit, da man sich vor den Weiten des Meeres fürchtete ― ohne dass auch nur ein einziger Elb bereit gewesen wäre, dies offen zuzugeben ― war vorbei. Auch Ithrondyr war Jahr für Jahr zweimal auf direktem Weg über das Zwischenländische Meer Richtung Süden gesegelt; hatte man auf dieser Route die Inseln von West-Elbiana hinter sich gelassen, war das nächste Land, das das Auge erblickte, die tagoräische Küste.
Die Winde waren günstig, und so ereichte die »Tharnawn« nach ein paar Wochen die Meerenge zwischen Tagora und Perea. Auf seinen Fahrten hatte Kapitän Ithrondyr umfangreiches Kartenmaterial erstellen lassen, sodass sich Keandirs Schiff keineswegs in unbekannten Gewässern bewegte. Aus den Erzählungen Ithrondyrs wusste der König, dass sein Kapitän auf jeder seiner Fahrten in Danabar, der Hauptstadt Tagoras, angelegt hatte. Als sich die weißen Kuppelbauten und hohen Sandsteinmauern an der tagoräischen Ostküste erhoben, stand Keandir an der Reling des Schiffes und staunte über die Kunstfertigkeit der kurzlebigen Menschen.
»Nicht alle Menschen sind gleich«, sagte der sprachkundige Gelrond, der Kapitän Ithrondyr auf mehreren Reisen begleitet und sowohl die verschiedenen Dialekte der Rhagar als auch das Idiom der Tagoräer erlernt hatte. »Daher könnt ihr die Tagoräer nicht mit den Rhagar vergleichen. Die Tagoräer haben nicht diese Einfalt und erst recht nicht die Brutalität der Rhagar, die einen Elben immer wieder bis ins Mark erschüttert.«
Im Hafen von Danabar bildete sich eine große Menschenmenge, als das Elbenschiff anlegte. Legaten des Königs bahnten sich ihren Weg und luden Keandir und seine Getreuen in den Palast von Setabus III. ein, dem gegenwärtigen König von Tagora und Perea. So zumindest betitelten ihn die Legaten, was nichts anderes bedeuten konnte, als dass auch die Tagoräer-Kolonie in Perea Teil eines Königreichs war.
Im großen Thronsaal des Palasts wurden Keandir und die Seinen von König Setabus III. empfangen. Er war ein hoch gewachsener, hellhaariger Mann mit sonnengebräuntem Gesicht. Er war fünfzig Jahre alt und hatte damit den größeren Teil seines kurzen Menschenlebens bereits hinter sich.
»Wir sind auf der Suche nach Kapitän Ithrondyr, den wir seit einigen Jahren vermissen«, erklärte Keandir. »Er war wie gewohnt in den Süden unterwegs, um die Lage in den Ländern ums Pereanische Meer zu erkunden, aber wir haben seit langer Zeit nichts mehr von ihm gehört.«
Die Stirn des tagoräischen Königs legte sich in Falten, und sein Blick wurde ernst und nachdenklich. »Auch wir hatten uns über eine lange Zeit hinweg an die regelmäßigen Besuche Eures Kapitäns Ithrondyr in unserer Stadt gewöhnt. Der Tag seiner Ankunft war in Danabar ein Feiertag, und es wurde stets ein großes Fest gegeben. Das war schon unter meinem Vater und meinem Großvater so, und es gehörte zu unserem Leben wie der jährliche Herbstregen oder die Stürme an der Südmeerküste im Frühling. Ithrondyr brach mit seinem Schiff gen Osten auf, und seitdem haben wir ihn nicht mehr gesehen.«
»Befahren eure Schiffe denn nicht auch die östlichen Gewässer?«, frage Keandir.
»Schon seit vielen Jahren nicht mehr«, antwortete Setabus. »Wir haben eine Kolonie auf der Insel Tebana, die mein Großvater gründete und mit der wir seitdem Handel treiben. Aber die Gewässer östlich von Tebana meiden wir.«
»Wegen der Rhagar?«
Setabus nickte. »Ja. Sie sind wie eine Pestilenz der Meere. In ihren unvollkommenen Schiffen verlassen sie die Sandlande und ziehen nach Norden.«
»So nehme ich an, dass der Bronzefürst von Shonda inzwischen zu einem sehr mächtigen Herrscher geworden ist«, sagte der Elbenkönig.
Setabus runzelte die Stirn. Er sah einen seiner Berater – einen weißhaarigen, faltigen und sehr dürren Mann – verständnislos an und wechselte dann ein paar Worte mit ihm, die Gelrond der Sprachkundige nicht zu übersetzen vermochte. Schließlich richtete König Setabus III. seinen Blick wieder auf Keandir und fragte: »Der Bronzefürst? Shonda? Dieses Reich ging schon zur Zeit meines Vaters unter. Aber noch weiter im Osten soll jetzt ein Rhagar-Herrscher sein Unwesen treiben, der als der ›Eisenfürst‹ bekannt ist. Seine Waffen sind aus härterem Metall, seine Krieger gelten als unbesiegbar, und seine Kriegsschiffe machen das Meer östlich von Tebana zu einem so unsicheren Gebiet, dass kein Händler es noch wagt, es zu
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