Elben Drachen Schatten
zunächst erstaunt, dann nickte sie. »Ja, Ihr habt mich durchschaut, Nathranwen, und erkannt, was mich bewegt.«
»Und was für ein Zeichen war es?«
»Es war ein Traum, in dem ich zwei Elbenkrieger sah, die sich im Kampf gegenüberstanden. Sie sahen vollkommen gleich aus, ihre Kleidung, die Gesichtszüge. Selbst der Klang ihrer Stimmen war gleich. Das Einzige, was sie unterschied, waren die Waffen, die sie benutzten.« Ruwen schaute Nathranwen an, und ihr Gesichtsausdruck war fragend und bestürzt zugleich.
»Fahrt fort, Ruwen!«, forderte die Heilerin.
»Sie kämpften nicht mit Schwertern oder anderen unter Elben gebräuchlichen Waffen. Stattdessen benutzten sie magische Stäbe, aus denen Flammen und Blitze zuckten. Der Stab des einen war aus dunklem Ebenholz; er wies zahlreiche Schnitzereien auf, die fratzenhafte Dämonengesichter zeigten, und an der Spitze war ein auf die Größe einer Faust geschrumpfter Totenschädel angebracht. Der Stab des zweiten Kriegers war hell und von einer Lichtaura umgeben, so als wäre er aus einem leuchtenden Material gefertigt. Auch er wies diese absonderlichen Schnitzereien auf, aber an seiner Spitze befand sich das goldene Abbild eines Affen mit gespreizten Flügeln.«
»Ähnlich diesen Schattenkreaturen, die in den Felsspalten dieser Küste hausen?«, fragte die Heilerin.
»Ja, Nathranwen. Nur dass dieser Goldaffe viel kleiner war. Ab und zu erwachte er aus seiner Erstarrung und bewegte sich. Dann schleuderte er Lichtbälle, die in seinen Handflächen entstanden waren.«
»Ein sehr seltsames Zeichen, das Ihr da empfangen habt«, meinte Nathranwen.
»Aber auch Ihr zweifelt nicht daran, dass es tatsächlich ein Zeichen ist?«
»Das ist es mit Sicherheit«, bestätigte die Heilerin. »Beachtet weiterhin Eure Träume und berichtet mir davon, Ruwen.«
»Über die Bedeutung wollt Ihr mir nichts verraten, Nathranwen?«, fragte die Königin.
Die Heilerin antwortete nur ausweichend. »Ich fürchte, ich weiß noch nicht genug, um die Bedeutung wirklich zu erfassen. Die beiden Männer, die sich so sehr glichen, müssen Brüder gewesen sein, Zwillinge vielleicht. Habt Ihr ihre Gesichter gesehen?«
»Ja«, flüsterte Ruwen, »und ihre Züge ähnelten denen unseres Königs so sehr, dass …« Sie sprach zunächst nicht weiter, sondern schluckte schwer. Dann sah sie Nathranwen an und sagte: »Versteht Ihr nun, weshalb ich so in Sorge bin? Was hat es mit diesem Kampf der Brüder auf sich, die meinem Gatten so sehr gleichen, dem König der Elben?« Wieder berührte sie ihren Bauch. »Ich nehme an, der Traum ist symbolisch zu verstehen, schließlich ist eine Zwillingsgeburt unter uns Elben derart selten, dass ich nicht annehmen kann, dass … nun ja …« Sie sprach nicht weiter. Vielleicht fehlten ihr die richtigen Worte. Vielleicht war es die Angst vor dem Unfassbaren, dass ihr die Stimme versagen ließ.
Nathranwen lächelte sie Mut machend an. »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist mit meinen bescheidenen Mitteln nicht festzustellen, ob Ihr in derart besonderer Weise auserwählt seid.«
»Ich weiß. Aber deutet mir den Traum, Nathranwen! Wird es zum Bruch zwischen den Elben kommen? Bedeutet es das? Werden wir in der Zukunft gegen unseresgleichen kämpfen?«
Die Heilerin hob die Schultern. »Es steht eine schwierige Entscheidung bevor: Sollen wir unsere Fahrt zu den Gestaden der Erfüllten Hoffnung abbrechen und dieses fremde Land dort zu unserer neuen Heimat machen -«, sie wies zur nebelverhangenen Küste des neu entdeckten Eilands, »- oder weiter nach etwas suchen, von dem viele inzwischen bezweifeln, dass es überhaupt existiert?«
Ruwen nickte. Wahrscheinlich hatte Nathranwen recht ― wahrscheinlich war ihr Traum nichts weiter als die Versinnbildlichung dieses Konflikts, der im Moment die Gemüter aller Elben bewegte. Unterbrochen hatten sie ihre Reise schon oft, hatten an mehr oder minder einladenden Küsten überwintert oder dort einfach nur Wasser und Nahrung aufgenommen und ihre Schiffe repariert. Aber niemals war ihnen der Gedanke gekommen, diese Küsten zu ihrer Heimat zu machen und die Suche nach den Gestaden der Erfüllten Hoffnung zu beenden.
Mittlerweile aber waren manche Weisen und Gelehrte unter den Elben zu der Ansicht gelangt, dass die Gestade der Erfüllten Hoffnung auf gewöhnliche Weise nicht mehr zu erreichen wären; sie befänden sich – bedingt durch eine kosmische Konjunktion – inzwischen in einer durch Raum und Zeit abgetrennten Sphäre, in die man
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