Elben Drachen Schatten
Offenbar fiel es den Fährtensuchern besonders schwer, sich an das Leben auf See zu gewöhnen, das nur kurze Unterbrechungen kannte. Sie brauchten die Berge, die Wälder und vor allem festen Boden unter den Füßen, dessen Zeichen sie zu deuten wussten wie sonst niemand. »Auf See fühlen wir uns wie ein Lautenspieler, der sein Gehör verloren hat, oder wie ein Künstler, dessen Augenlicht schwindet«, hatte einer von ihnen gesagt, an jenem Tag, als er sich seinem Lebensüberdruss hingab und sich über die Reling seines Schiffes stürzte.
Lirandil war einer der wenigen, die noch unter ihnen weilten. Sein Haar war silbergrau, aber abgesehen davon sah man ihm nicht an, dass er selbst für elbische Verhältnisse bereits uralt war. Man bemerkte nur einen eigenartigen Widerspruch zwischen der jugendlichen Elastizität und Kraft seines Körpers und dem weisen, wissenden Blick seiner Augen, deren Iris im Gegensatz zu den meisten anderen Elben bernsteinfarben waren.
Prinz Sandrilas hatte oft bemerkt, dass jüngere Elben – darunter auch König Keandir – diesem Blick des Fährtensuchers ausgewichen waren. Zu groß war wohl die Furcht vor den unaussprechlichen Schrecken der Vergangenheit, zu groß die Angst, dass sie zur Nemesis für die Zukunft an den Gestaden der Erfüllten Hoffnung werden konnten, die doch eigentlich das Ziel ihrer Wanderfahrt waren.
Vielleicht war es aber auch dieser grausame Lebensüberdruss, der im matten Glanz von Lirandils Bernsteinaugen klar zu erkennen war. Kein Elb konnte dieses Zeichen übersehen, und es erinnerte jeden von ihnen daran, dass der Keim dieser Krankheit in ihnen allen schlummerte. Vielleicht brauchte es nur den entsprechenden Anlass, um diesen Keim der finsteren Todessehnsucht zu seiner dunklen Blüte zu führen.
Das Einzige, das Lirandil während all der Zeit davor bewahrt hatte, dem schrecklichen Drang nachzugeben und seine überlange Existenz zu beenden, war der Wille, das Wissen der Fährtensucher eines Tages an eine jüngere Elbengeneration weiterzugeben. Obwohl es während der Zeit in der nebelhaften Sargasso-See so ausgesehen hatte, als ob es nie wieder Bedarf an elbischen Fährtenlesern geben würde, hatte Lirandil an diesem Gedanken festgehalten.
Irgendwann – vielleicht erst nach Abermilliarden von Tagen im wallenden Nebelmeer – würden die Elben ihre neue Heimat erreichen, die Gestade der Erfüllten Hoffnung.
An diesem Glauben hatte Lirandil festgehalten. Und so hatte er auch an seinem Leben festgehalten.
Irgendwann …
Für diesen Tag hatte er gelebt. Für diesen Tag und die Zeit danach, in der er einer neuen Generation seegeborener Elben das Fährtensuchen beibringen wollte. Erst danach durfte er sich den eigenen düsteren Neigungen hingeben und ins Reich der Jenseitigen Verklärung eingehen.
Ob das Land, auf das die Elben ihren leichtfüßigen Schritt gesetzt hatten, tatsächlich zu ihrer neuen Heimat werden konnte, daran hatte Lirandil inzwischen erhebliche Zweifel. War dieses Land es wert, das große Ziel aufzugeben, die Gestade der Erfüllten Hoffnung?
Die lange Zeit in der Sargasso-See hatte ihn zum Skeptiker werden lassen, und so war sein Glaube an die Gestade der Erfüllten Hoffnung mehr ein verbissenes Festhalten. Als sie damals aufgebrochen waren, vor Urzeiten, da war er überzeugt davon gewesen, dass sie die Gestade der Erfüllten Hoffnung angesichts der weit fortgeschrittenen elbischen Seemannskunst leicht erreichen würden. Doch während der langen Zeit in der Sargasso-See waren auch in ihm Zweifel erwacht, dass dieses ferne Land überhaupt existierte. Leichte Zweifel zunächst, die jedoch immer größer und drängender wurden. Vielleicht war Bathranor nichts weiter als eine abstrakte Chiffre elbischer Gedankenakrobatik. Etwas, dass sich ihre Philosophen als hypothetisches Konstrukt ersonnen hatten und das dann irgendwann für ein reales Objekt ihrer Sehnsüchte gehalten worden war.
Wie oft hatte er den Tag verflucht, da die Elben die Alte Heimat verlassen hatten, um sich ganz dem Erreichen dieses völlig ungewissen Ziels zu verschreiben. Und wie oft hatte er sich gewünscht, den festen Grund, von dem er als Fährtensucher lesen konnte wie in einem offenen Buch, wieder unter den Füßen zu haben.
An die schwankenden Planken eines Elbenschiffs hatte er sich trotz der langen Zeit auf See einfach nie gewöhnen können. Und trotz aller Anstrengungen, sie zu lernen, waren die Zeichen des Meeres für den Fährtensucher immer ein Rätsel geblieben.
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