Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
Ablenkungsmanöver.«
»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Yrr. »Er hat die Nachricht doch gar nicht erhalten.«
»Nach allem, was wir wissen, gibt es mindestens einen Verräter hier in Elbenthal«, sagte Alberich. »Sonst hätte Laurin Svenya niemals vor unseren Augen entführen lassen können. Es ist nicht auszuschließen, dass er auf dem gleichen Weg vom Inhalt dieser Nachricht erfahren hat.«
»Du hast sie doch eben erst zu Ende entschlüsselt«, widersprach Yrr.
»Trotzdem kann ihm der verschlüsselte Originaltext von irgendjemandem übermittelt worden sein, nachdem es uns gelungen war, die Nachricht zu öffnen.«
»Verstehe«, sagte Hagen. »Und Laurin besitzt den Code und hätte sie direkt entschlüsseln können.«
Alberich nickte.
»Aber Laurin ist schon seit ihrer Entdeckung hinter Svenya her«, gab Yrr drängend zu bedenken. Sie fühlte, wie ihnen wertvolle Zeit zwischen den Fingern zerronn. »Das war Wochen vor dem Eindringen des Wyrm mit der Botschaft. Was, wenn er gar nichts von der Nachricht weiß und wirklich einen Weg kennt, mit Svenyas Hilfe ein Ritual durchzuführen, mit dem er ein zweites Tor öffnen kann?«
»Der Zufall wäre enorm«, sagte Hagen. »Aber durchaus möglich.«
»Ja«, bestätigte Alberich. »Sowohl Laurin als auch seine Leute in Alfheim arbeiten an nichts anderem als an einem Weg zwischen den Welten.«
»Es ist also durchaus möglich, dass sie völlig unabhängig voneinander agieren und die Terminüberschneidung zufällig ist«, resümierte Hagen. »Wenn das so ist, hat Laurin scheinbar tatsächlich einen Weg gefunden, ein zweites Tor zu öffnen. Vater, ich muss zu ihr. Ich muss sie retten. Sie – und damit uns alle.«
Yrr sah, wie sich eine große Traurigkeit auf die Miene ihres Großvaters legte. »Ja, zu ihr musst du, Sohn. Aber allein. Und … nicht um sie zu retten.«
Im ersten Augenblick verstand Yrr nicht, wie der König das gemeint haben könnte, doch dann sah sie das Gesicht ihres Vaters – wie es binnen eines einzigen Momentes zu Stein wurde und wie seine muskulösen Kiefer zu arbeiten begannen, um das, was er wirklich fühlte, zwischen seinen Zähnen zu zermahlen und unausgesprochen wieder herunterzuschlucken. Sie sah die Träne, die sich in seinem gesunden Auge bildete und ihm die Wange herablief, und wie er die Fäuste an den Seiten seiner Schenkel so fest ballte, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Nein!«, rief Yrr, als sie es endlich begriff. »Das könnt ihr nicht tun. Es muss einen anderen Weg geben!«
Doch ihr Vater nahm die Haltung eines Generals an. Er verneigte sich vor Alberich. »Euer Wille geschehe, mein König.«
56
»Du kannst sie nicht töten!«, rief Yrr, als sie und Hagen wieder in seinem Quartier materialisierten. »Du hast ihr gerade vor ein paar Stunden noch die Treue geschworen.«
Hagen sah seine Tochter an, und in seinem Blick brannte die Verzweiflung. »Und mit dem, was zu tun ich jetzt gezwungen bin, erfülle ich diesen Schwur. Ich helfe ihr dabei, eine Invasion Midgards zu verhindern. Svenya würde dasselbe für mich tun.« Dann begann er mit eiligen, aber geübten Bewegungen, seine Ausrüstung zusammenzustellen und anzulegen. Als Werkzeug für sein Vorhaben wählte Hagen einen Bogen aus Steinbockhörnern und einen Köcher voller Pfeile mit flachen Spitzen aus reinem Eisen.
»Dich einfach töten?«, begehrte Yrr auf und riss ihm den Bogen aus der Hand. »Nein. Das würde sie nicht, Vater. Sie würde einen Weg finden, dich und Midgard zu retten.«
Hagen nahm den Bogen mit einem entschlossenen Griff wieder an sich. »Wenn es diesen Weg gäbe, hätte ich ihn beschritten. Das musst du mir glauben.«
»Du hast nicht einmal nach einem gesucht«, warf sie ihm vor. »Bedeutet Svenya dir denn so wenig?«
Er fuhr zu ihr herum, und für einen Sekundenbruchteil glaubte Yrr, er wollte sie schlagen. Das wäre das erste Mal in ihrem Leben gewesen. Aber da war keine Wut in seinem Blick – nur Hilflosigkeit.
»Ich habe jede erdenkliche Möglichkeit, die es in Betracht zu ziehen gibt, auch in Betracht gezogen. Wenn es Laurin mit Hilfe des Rituals gelingt, ein zweites Tor zu öffnen, ist das das Ende Midgards. Glaubst du, sie würde das wollen?«
Obwohl sie nicht minder verzweifelt war als er, wusste Yrr, dass ihr Vater die Wahrheit sagte – dass sein seit Jahrtausenden strategisch zu denken gewohntes Hirn jede Alternative bereits durchgespielt und wieder verworfen hatte.
»Ich werde mit dir kommen«, sagte sie. »Vielleicht
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