Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
trotz aller Angst, die sie hatte. Und hatte das Leben sie nicht gelehrt: Wenn du mit Abhauen oder Flehen nicht weiterkommst, versuche es mit Frechheit – die siegt … zumindest meistens?
»Genau«, sagte sie deshalb jetzt. »Ich bin die Auserwählte, die die Erde und die Menschheit retten soll.«
»Nicht retten«, widersprach er. »Beschützen.«
»In Ordnung, beschützen. Und wovor gleich nochmal?«
»Vor den Horden der Dunkelelben und allen Schreckenskreaturen in ihren Diensten, denen es gelungen ist und denen es auch jetzt noch hin und wieder gelingt, durch das Letzte Tor zu schlüpfen.«
»Mit Schreckenskreaturen meinst du Ungeheuer, Monster und dergleichen?«
Er nickte mit finsterem Gesicht.
Inzwischen war Svenya sich ziemlich sicher, es tatsächlich mit völlig abgedrehten Rollenspielern zu tun zu haben und dass das, was sie vorhin für Wolfsmänner gehalten hatte, in Wahrheit nichts anderes als Jungs in verdammt guten Masken gewesen waren.
Und die meterweiten Sprünge über die Straßenschlucht?, fragte ihre innere Stimme, getragen von Zweifeln.
Tricks, antwortete sie sich selbst. Nichts weiter als Tricks. Irgendwelche Seilsysteme oder so. Und die Blitze waren irgendwelches Feuerwerk .
Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass eine Gruppe gelangweilter Reicher, die die Mittel hatten, einen solchen Aufwand zu betreiben, sich einen Spaß daraus machte, eine arme Obdachlose für ihre perversen Spiele zu missbrauchen.
»Und ich als einfacher Mensch soll dazu in der Lage sein, sie zu bekämpfen?«
»Ihr, ein einfacher Mensch?«, fragte Hagen. »Mitnichten, Eure Hoheit. Ihr seid eine Elbenprinzessin.«
»So so, eine Elbenprinzessin«, murmelte Svenya ironisch. »Deshalb hab ich vor ein paar Stunden noch ranziges Frittierfett und Zigarettenkippen entsorgt und mehr Nächte meines Lebens unter Brücken und im Park geschlafen als in einem richtigen Bett.«
»Es tut mir leid«, sagte er. »Über Eure Vergangenheit darf ich Euch nichts …«
Ihr hart nach oben zwischen seine Schenkel gezogenes Knie unterbrach seinen Wortschwall, und noch ehe er zu Boden ging, war Svenya die Treppe bereits nach oben gerannt. Sie hatte mehr als genug gehört. Welch abartiges Spiel sich diese reichen Schnösel da auch immer ausgedacht haben mochten, es hatte jetzt und hier ein Ende. Mit jedem einzelnen Schritt nahm sie drei bis fünf Stufen auf einmal – getrieben von der Verzweiflung, von hier weg zu müssen oder irgendwann einmal als Wasserleiche aus der Elbe gefischt zu werden. Denn eines war klar: Wenn diese Kerle ihr Spiel erst einmal zu Ende gespielt hatten, würden sie sie entsorgen. Sie konnten es sich nicht leisten, von ihr angezeigt und in einen Skandal verwickelt zu werden.
Svenya rannte so schnell, wie sie noch nie zuvor gerannt war. Schneller noch als vorhin von dem Parkhaus zum Bahnhof. Immer weiter nach oben. Treppe um Treppe. So viele Stufen wie noch nie. Sie wunderte sich, dass es sie nicht erschöpfte – dass die Muskeln in ihren Schenkeln das mitmachten. Aber Stehenbleiben war keine Option.
Es wurden immer mehr Treppen, und irgendwann fragte sie sich, ob sie vielleicht in die falsche Richtung rannte. Wenn das hier ein Spiel war, dann lag »Wo-auch-immer-sie-gerade-war« natürlich nicht unter der Erde, sondern überirdisch – vermutlich befand sie sich in irgendeiner Kirche oder Kathedrale, die die Verrückten gemietet hatten. Was wiederum bedeutete, dass sie im Moment nicht in die Richtung möglicher Ausgänge rannte, sondern eher zum oberen Ende eines verdammt hohen Turmes.
Eine Sackgasse. Das würde auch erklären, warum niemand sie verfolgte. Sie hatten es nicht eilig.
Svenya fluchte und nahm sich vor, im Schwung nur noch die nächste Treppe zu nehmen und sich dort dann erst einmal neu zu orientieren.
Sie sprang nach oben … und stand auf einmal genau vor Hagen … der sie mit seinem einen dunklen Auge wütend anfunkelte.
Sie stand da wie angewurzelt und hätte am liebsten losgeheult vor Zorn, Enttäuschung und Verzweiflung.
Wie hatte er die Strecke schneller zurücklegen können als sie? Wie hatte er an ihr vorbeikommen können, ohne dass sie ihn gesehen hatte? Svenya hatte keine Vorstellung. Doch dann realisierte sie etwas. Etwas, das noch weniger sein konnte, als dass er sie unbemerkt überholt hatte. Etwas völlig Unmögliches: Sie stand an dem gleichen Fleck, von dem aus sie losgelaufen war!
Obwohl sie immer nur aufwärts gerannt war, war sie wieder ganz genau hier
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