Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
mehr als Angst – sie löste schiere Panik in ihr aus. Eine Panik, die nicht ins Mark kriecht, sondern förmlich hineindonnert und alles andere, jeden klaren Gedanken und jedes Gefühl ausblendet.
»Dir fehlt noch immer das Vertrauen in dich selbst«, sagte Hagen sanft. »In dich und deine Macht.«
»Jetzt mehr denn je«, gestand sie. »Ich will nicht sterben.«
»Du warst bereit dazu, als du gegen den Wyrm angetreten bist. Und genau diese Bereitschaft hat dir die Kraft gegeben zu überleben.«
»Es ist ein Unterschied, sich gegen einen Angreifer zu wehren und dabei den Tod zu riskieren oder jemandem kaltblütig zu einem Duell auf Leben und Tod gegenüberzutreten. Ein gewaltiger Unterschied.«
Hagen schüttelte den Kopf. »Dass Oegis in Ketten liegt, ändert nichts daran, dass er gleich nach den Horden Schwarzalfheims die größte Bedrohung ist für unser Volk. Du hast ihn gehört.«
»Eine Bedrohung, die ihr selbst geschaffen habt, indem ihr ihn hier unten gefangen gesetzt habt.«
»Nein«, wehrte Hagen ab. »Hätten wir ihn nicht hier gefangen, würde er seit anderthalb Jahrtausenden nicht nur die Menschen tyrannisieren, sondern auch alles daransetzen, uns zu vernichten, um an den Schatz meines Vaters zu kommen.«
»Warum haben wir ihm den Schatz damals nicht einfach überlassen?«, fragte sie. »Dann wäre es vielleicht nie zu der Feindschaft gekommen. Wenn ich das richtig sehe, verfügen wir doch über mehr Gold und Geld, als wir jemals auszugeben in der Lage wären.«
»Wenn es so einfach wäre, hätten wir auch den Krieg gegen die Dunkelelben verhindern können, indem wir Loki den Schatz geschenkt hätten.«
»Ja. Warum habt ihr nicht?«
»Weil die wahre Natur des Drachen nicht die Gier nach Gold ist, sondern das Bestreben, Unfrieden zu säen und Zwist. Hreidmar hat nicht zufällig unseren Schatz gefordert – und ebenso wenig zufällig den ganzen Schatz.«
»Ihr tut, als müsste ich wissen, worauf Ihr hinauswollt«, sagte sie.
»Kennst du den ›Ring des Nibelungen‹?«, fragte Hagen.
»Das ist ein Theaterstück«, sagte sie. »Oder ein Film? Oder eine Oper?«
»Ja, ein Komponist namens Richard Wagner hat einen Opernzyklus daraus gemacht«, sagte Hagen. In seiner Stimme schwang Geringschätzung mit. »Aber der Ring existiert wirklich. Sein Name ist Andvaranaut, so geheißen nach einem der vielen Namen meines Vaters – Andvari. Dieser Ring ist das Kernstück des Schatzes. Er hat die Fähigkeit, Gold zu mehren. Durch ihn ist der Schatz überhaupt erst entstanden. Auf ihn hatte es Hreidmar in Wirklichkeit abgesehen. Weil er wusste, dass ganze Königreiche ohne zu zögern gegeneinander in den Krieg ziehen würden, um ihn an sich zu bringen.«
»Also hat ihn und seinen Sohn letzten Endes genau der Fluch getroffen, den er anderen auferlegen wollte«, fasste Svenya zusammen.
Hagen nickte. »Und Oegis habe ich gefangen gesetzt, damit das alles ein Ende nimmt. Damit er nicht zum Vernichter der Menschheit werden kann.«
»Wäre es nicht klüger gewesen, ihn damals gleich zu töten?«, fragte Svenya.
»Das konnte ich damals nicht«, gestand Hagen. »Auch wenn ich es da drinnen nicht zugeben konnte, aber Oegis hat recht: Er ist unschuldig. Zumindest war er das damals. Andererseits … wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß …«
»Sprecht«, sagte Svenya, als sie merkte, dass er zögerte.
»Zum einen konnte niemand damit rechnen, dass er so groß und so mächtig werden würde …«
»Was meint Ihr?«
»Seine Mutter war offenbar ein Wesen von sehr viel größerer Macht als die Mütter von Hreidmar und Fafnir – deswegen ist Oegis nicht nur wesentlich größer als jeder andere Drache vor ihm, sondern auch mächtiger. Und mit jedem Jahrzehnt, das vergeht, wächst er weiter. Schon bald werden ihn weder die Ketten noch die Gitter länger halten können.«
»Und ich soll nun also die Scharfrichterin sein.«
»Es gibt außer den Göttern selbst nur wenige, die ihn jetzt noch besiegen können, ohne dabei das eigene Leben zu verlieren.«
»Das kann ich nicht«, sagte Svenya entschieden. »Versteht mich bitte nicht falsch, Hagen. Euer Vertrauen in meine Macht ehrt mich. Ehrt mich sogar außerordentlich. Aber ich glaube, das Problem ist gar nicht so sehr, dass ich meine Fähigkeiten unterschätze.«
»Sondern?«
»Das wahre Problem ist, dass Ihr sie über schätzt«, erwiderte sie. »Ihr wollt in mir etwas sehen, das ich gar nicht bin. Was ich niemals sein werde. Was ich niemals sein
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