Elbenzorn
»Jetzt steht uns der schwierigste Teil unserer Reise bevor, und dafür brauchen wir einen klaren Kopf.«
Rutaaura glaubte, nicht müde genug zu sein, um in dieser Umgebung Schlaf zu finden, aber dann spürte sie eine Hand an ihrer Schulter, die sie sanft rüttelte, und als sie die Augen aufschlug, sagte Lootana leise: »Wir müssen weiter. Es wird Zeit.«
Es ging nun eine ganze Weile lang steil aufwärts. Rutaaura geriet außer Atem und fragte sich, wie die Älteste diese Anstrengung bewältigen konnte. Aber Windgesang zeigte keine Zeichen von Ermüdung. Als sie schließlich in einer Höhle ohne zweiten Ausgang anhielten, nahm die Älteste Rutaaura bei der Hand und sah sie lange an. »Jetzt brauche ich dich«, sagte sie schließlich. »Sieh dort«, sie deutete auf die Wand und die Höhlendecke. Rutaaura versuchte zu erkennen, worauf die Älteste zeigte. »Was ist das?«, fragte sie. »Es sieht aus wie Wurzeln aus Stein.«
»Wurzeln«, bestätigte Windgesang. »Von hier aus können wir überallhin gelangen, wenn wir nur die richtige finden. Das ist deine Aufgabe.«
Rutaaura sah sie fragend an. »Das war ein Witz«, sagte sie schließlich, als keine weitere Erläuterung folgte.
Windgesang schüttelte den Kopf und hockte sich auf den Boden. Lootana setzte sich neben sie. »Fang an«, sagte die Älteste müde.
Rutaaura starrte die Wurzeln an, die sich dicht an dicht über Decke und Wände knäulten. Ineinander verflochten und verknotet, zogen sie sich in armdicken Strängen bis zu haarfeinen Fädchen über die gesamte Fläche. Rutaaura legte probeweise ihre Hand auf einen dicken Wurzelstrang und fuhr ihn mit den Fingern nach. Es war massiver, kalter Stein, den sie fühlte. Sie warf einen verwirrten Blick über ihre Schulter, aber Windgesang und ihre Mutter lehnten aneinander und schliefen.
Rutaaura drehte sich mit einem leisen Seufzer zurück zur Wand. Sie verfolgte den Strang, auf den ihr Blick als Erstes gefallen war, mit den Augen. Er kurvte und schlängelte sich, und sie musste sich anstrengen, ihn nicht zu verlieren. Unter ihrem starren Blick entwickelte er ein eigentümliches Leben. Nicht mehr graubraun und felsartig, sondern mit einem rötlichen Glühen, das sie in ihrem Inneren fühlen konnte, zog er sich über die Wand, verschwand an der Decke zunächst unter einem verknäulten Strang anderer Wurzeln, tauchte wieder daraus auf und wanderte über die andere Wand. Dort verlor er seine rötlich leuchtende Farbe und verschwand unter unzähligen anderen, aber Rutaauras Blick blieb sofort an einem anderen Wurzelstrang hängen, der haarfein und in einem scharfblauen Ton unter ihrem Blick aufleuchtete. Auch dieser verblasste nach einer Weile wieder, und im gleichen Augenblick wurde sie von einem dunkelgrün schimmernden, armdicken Zopf angezogen, der sich entfaltete und in fünf Stränge teilte, von denen ein mild organgefarbener Rutaauras Blick anzog und weiterleitete.
Sie verlor jedes Gefühl für ihre Umgebung und ihren eigenen Körper. Nur noch das vielfarbige, manchmal sanfte, manchmal blendend grelle Leuchten der Wurzeln füllte ihre Welt. Und dann war es plötzlich vorüber. Ihre Knie wurden weich, und sie sackte vornüber. Hände hielten sie und fingen sie auf, und als sie wieder sehen konnte, lag ihr Kopf im Schoß ihrer Mutter, und Lootanas warme Hände streichelten ihre Stirn. »Du hast es geschafft«, sagte sie. »Schau.«
Rutaaura hob den Blick. Das wilde Gewirr der Wurzeln war verschwunden, Wände und Decke zeigten sich spiegelglatt, wie poliert. Nur ein einziger Wurzelstrang zog sich noch vom Eingang über alle Wände und die Decke.
»Das ist also unser Weg«, sagte Windgesang und stand auf. »Ich werde ihn öffnen.«
Sie strich mit den Händen über die Erhebung, und Rutaaura spürte, wie der Boden erzitterte.
»Nehmt meine Hände«, sagte Windgesang.
Mit einem Mal waren Wände, Decke und Boden der Höhle verschwunden, und sie hingen frei inmitten einer undurchsichtigen Wolke, die träge um sie zirkulierte. Rutaaura keuchte und klammerte sich fest an Windgesangs Arm. Die alte Elbin murmelte: »Ruhig, Kind.« Rutaaura hörte ihren schweren Atem neben sich. Sie schloss die Augen und spürte den Luftzug, der sie umwehte. Er wurde stärker, so stark, dass ihre Kleider flatterten und der Wind ihr das Haar ins Gesicht peitschte. Das alles geschah vollkommen lautlos, was diesen Sturm umso gespenstischer machte.
»Askur«, rief Windgesang und ließ Rutaauras Hand los. Es gab einen heftigen Ruck,
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