Elegie - Herr der Dunkelheit
alle meine kleinen Hübschen.«
Pietre runzelte die Stirn, und Sarika schaute unruhig drein. Schließlich gehorchten sie ihr. Marija, Stepan, Anna – sie alle standen aufgereiht vor ihr, die silbernen Halsbänder schimmerten. Alle außer Radovan, dessen lebloser Körper bewegungslos auf der Terrasse lag. So jung waren sie alle! Wie viele hatte sie im Laufe der tausend Jahre unter ihren Willen gebracht? Unzählige.
Und nun war es vorbei. Vorbei.
»Kommt her«, sagte Lilias. »Ich will euch die Freiheit geben.«
»Nein!«, keuchte Sarika und griff sich mit beiden Händen an das silberne Halsband.
Die finster dreinschauende Marija beachtete sie nicht und trat schnellen Schrittes an die Stufen des Thrones. Ein hübsches Mädchen mit den hohen, breiten Wangenknochen einer beschtanagischen Bäuerin. Sie hätte schon lange die Freiheit erhalten sollen; sie war mit Radovan befreundet gewesen. Lilias sah sie bedauernd an und beugte sich vor, dann berührte sie das Halsband mit zwei Fingern. Sie hielt sich ein Muster vor Augen und flüsterte drei Worte, die Calandor ihr beigebracht hatte. Damit löste sie das Muster auf die Weise, wie es der Drache ihr gezeigt hatte, vor so vielen hundert Jahren.
Silberne Glieder teilten sich und fielen zu Boden. Marija sah vorsichtig zu dem Halsband und berührte ihren nackten Hals. Mit einem harten Lachen wandte sie sich ab und lief davon, und ihre
Schritte hallten durch den leeren Saal. Lilias seufzte und massierte ihre Schläfen. »Kommt«, sagte sie müde. »Wer ist der Nächste?«
Niemand bewegte sich.
»Warum?«, flüsterte Pietre. »Warum, Gebieterin? Haben wir Euch nicht gut gedient?«
Sie war tausend Jahre alt, und sie hätte am liebsten geweint. Oh Uru-Alat, die Zeit war so schnell vergangen! »Doch, mein Schöner«, sagte Lilias, so sanft sie konnte. »Das habt ihr. Aber ihr müsst verstehen, wir sind besiegt. Und da ihr unschuldig seid, werden Haomanes Verbündete euch Gnade erweisen, wenn ihr sie darum bittet. Das ist ihre Art.«
Sie protestierten natürlich. Das lag in der Natur jener Besten unter ihren kleinen Hübschen. Aber schließlich gab sie ihnen allen die Freiheit. Bei Pietre war es am schwersten. Er hatte Tränen in den Augen, als er vor ihr niederkniete und blinzelte. Als das Halsband von seinen Schultern fiel, schrie er laut auf.
»Sei von nun an frei davon.« Lilias beendete die Geste, das Lösen , und lehnte den Hinterkopf gegen den Thron. Die letzte Verbindung entglitt ihrem Griff, die letzte Trennung war vollzogen. Es war vollendet. Auf ihrer Stirn flackerte der Soumanië ein letztes Mal auf und verdunkelte sich.
Sie war fertig.
»Gebieterin.« Obwohl sein Hals nun nackt war, griff Pietre nach ihrer Hand. Seine Kehle zierte kein Halsband mehr, und doch hatte sich nichts an seinem festen Blick geändert. »Eine Abordnung steht vor der Tür. Soll ich sie hereinbitten?«
»Ja.« Lilias vertraute darauf, dass der unnachgiebige Granit sie stützen würde, und schluckte, um den Kloß aus der Kehle zu bekommen. »Danke, Pietre«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Ich bin hier fertig. Wenn du mir einen letzten Dienst erweisen willst, lass sie herein.«
Fünf waren es, die den Saal betraten.
Den Vordersten kannte sie. Viel zu lange schon hatte sie ihn aus großer Entfernung beobachtet, als dass sie ihn nun nicht erkannt
hätte. Sein falbgrauer Mantel bauschte sich, als er voranschritt, und das Sonnenlicht schimmerte auf seinem rotgoldenen Haar. Sterblich, nun wohl; Arahilas Kind, mit Oronins Horn stets dicht auf seinen Fersen. Dennoch lag noch etwas anderes in seinen wilden, auseinanderstehenden Augen, ein Bewusstsein, das wenige seines Geschlechts mitbrachten.
Ihres Geschlechts.
Lilias saß bewegungslos da und sah sie herankommen. Über ihrem Kopf glitzerten Smaragde an der Rückenlehne ihres Granitthrons, mit dem Stein selbst verschmolzen. Sie selbst hatte sie dort eingebettet, nachdem Calandor ihr beigebracht hatte, wie man den Soumanië verwendete, um Elemente zu gestalten , vor beinahe tausend Jahren. Seitdem hatte sie Beschtanag von diesem Thron aus regiert, zum Guten oder Schlechten.
Die Abordnung blieb vor ihr stehen.
Niemand verbeugte sich, der Anführer schon gar nicht. »Zauberin.« Er klang kurz angebunden. »Ich bin Aracus Altorus von der Grenzwacht Curonans, und ich spreche für Haomanes Verbündete. Ihr wisst, weswegen wir gekommen sind. Ist sie hier?«
Lilias sah an ihm vorbei zu den anderen vier. Zwei von ihnen waren Sterbliche,
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