Elegie - Herr der Dunkelheit
die ausgestreckte Hand wieder an seine Seite sinken. »Ich hatte nichts anderes erwartet, Hohe Frau. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Wieso habt Ihr Euch geweigert?« Die Worte sprangen von ihren Lippen, und Cerelinde wünschte sie sich ungesagt, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. Aber nun waren sie draußen, und sie konnte
sie nicht zurücknehmen. Sie kämpfte sich weiter voran. »Dieser … Streit, der Krieg der Schöpfer. Haomane der Erstgeborene bat Euch dreimal, Arahilas Kindern Eure Gabe zu nehmen. Wieso habt Ihr euch geweigert?«
»Wieso?« Donner grollte in der Ferne, und Wolken begannen sich über dem Tal von Gorgantum zusammenzuziehen und die Sterne zu verdunkeln. Der Schöpfer hob den Kopf und beobachtete, wie über den Himmel jagende Wolkenfetzen die halbierte Scheibe des silbrigen Mondes verdeckten. Im düsteren Licht, das noch blieb, war sein Hals eine Säule aus Obsidian, seine Brust ein Schild der Nacht, und die langsame Flut rinnenden Blutes, die an seinem Schenkel schimmerte und am Bein hinabrann, war ölig und schwarz. Etwas in seiner Haltung, in seiner Präsenz , erinnerte sie daran, dass einer der Sieben Schöpfer vor ihr stand, und sie dachte an die unerträgliche Qual, der sie gewahr geworden war, als er sich den Schattenhelm aufgesetzt hatte. »Fragt meinen Älteren Bruder, Hohe Frau. Er ist es, den Ihr anbetet.«
»Er ist nicht hier, dass ich ihn fragen könnte«, sagte Cerelinde bescheiden und rang die Hände.
»Nein.« Langsam senkte Fürst Satoris seinen Kopf, um sie zu betrachten, und seine Augen glühten so rot wie Blut oder wie niederbrennende Holzscheite. »Das ist er nicht.«
Die Trauerglöckchen erschauerten in mitempfundener Trauer, als sich der Schöpfer abwandte, den Kopf gesenkt, und das dunkle Bollwerk seiner Schultern erhob sich wie eine anschwellende Welle. Cerelinde kämpfte gegen das Gefühl eines Verlustes an. Ein Verlust, aber was war verloren gegangen? Ein verlorener Augenblick, eine verpasste Gelegenheit. Etwas entschwand, glitt durch ihre schlanken Finger und durch die Lücken ihres scharfen ellylischen Verstandes, als er, der die Welt gespalten hatte, durch den Garten trottete und hinter sich Tropfen dunklen Blutes zurückließ.
»Herr!«, schrie sie in ihrer Verzweiflung laut auf. »Wieso?«
Leichter Regen setzte ein, während Satoris sich von ihr entfernte und seine Worte bis zu ihr widerhallten. »Egal, welche Geschichten sie über mich erzählen mögen, sie werden nicht sagen können, dass
ich Euch in einem Zornesausbruch erschlug. Dafür zumindest werde ich sorgen.«
Sie blieb allein im Garten zurück und zuckte zusammen, als die ersten Tropfen ihre Haut berührten, aber es war gewöhnlicher Regen. Wasser, nicht mehr, nicht weniger, das feuchte Flecken auf ihren seidenen Gewändern hinterließ. Er fiel wie ein sanfter Balsam auf den Mondgarten, wusch den Schwefelgestank ebenso weg wie die dunklen Spuren des Schöpferbluts. Auf einem Beet in der Nähe öffneten sich bleiche Blüten wie Augen, um den sauberen Regen willkommen zu heißen, und der stechende Geruch der Vulnusblüten zog durch die Luft.
Ihr Duft beschwört Erinnerungen herauf. Schmerzvolle Erinnerungen.
Tanaros’ Worte.
Es war ein Duft, der mit nichts anderem zu vergleichen war, zart und betörend. Cerelinde taumelte und scheute davor zurück, denn sie wollte nicht noch einmal sehen, was er voriges Mal heraufbeschworen hatte: das Tal von Lindanen am Tag ihrer Hochzeit, Aracus, der sich dem tödlichen Angriff der Wehre gegenübersah, seine und ihre Verwandten, die fielen, getötet wurden, und Tanaros, der auf seinem schwarzen Pferd vor ihr auftauchte und nach ihr griff, während Blut die Schneide seiner schwarzen Klinge besudelte.
»Nein«, hauchte sie.
Die Erinnerung kam nicht. Stattdessen sah sie wieder die dunkle Silhouette des Schöpfers; Satoris Fluchbringer, Satoris Weltenspalter, den Schatten seiner ausgestreckten Hand auf dem sterbenden Gras zwischen ihnen.
»Ich verstehe nicht!« Cerelinde wandte ihr Gesicht zum Nachthimmel und ließ den Regen die Tränen abwaschen, die sich in ihren Augen sammelten. »Gedankenfürst«, bat sie, »ich bitte dich, schenke mir Weisheit.«
»Hohe Frau.« Eine massige Gestalt kam durch den Garten auf sie zu, eine Laterne in der Hand. »Die Mørkhar sagten, der Fürst hätte Euch verlassen. Kommt jetzt, ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.« Vorax hielt die Laterne hoch und schnupperte. »Vulnusblüten«, sagte
er voller Ekel. »Ihr solltet
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