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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Gefühlsverwirrungen hervorriefen.
        In den Sekunden nach diesem ersten Kuß überkam Annabelle trotz der Behauptungen der Zeitschrift ein entsetzlich trauriges Gefühl. Irgend etwas Schmerzhaftes und Unbekanntes erfüllte auf einmal ihre Brust. Sie verließ das Kathmandou und untersagte dem Jungen, ihr zu folgen. Sie zitterte leicht, als sie die Diebstahlsicherung ihres Mopeds aufschloß. Sie hatte an jenem Abend ihr schönstes Kleid angezogen. Das Haus ihres Bruders war nur einen Kilometer entfernt, als sie dort ankam war es erst kurz nach elf, im Wohnzimmer brannte noch Licht; als sie das Licht sah, fing sie an zu weinen. Das waren die Umstände, in denen Annabelle 1974 in einer Julinacht das schmerzliche, definitive Bewußtsein ihrer i ndividuellen Existenz erlangte. Die individuelle Existenz, die dem Tier zunächst in Form von körperlichem Schmerz offenbart wird, erlangt in den menschlichen Gesellschaften nur auf dem Wege über die Lü ge, mit der sie in der Praxis auch verschmelzen kann, das volle Bewußtsein ihrer selbst. Bis zum Alter von sechzehn Jahren hatte Annabelle ihren Eltern nie etwas verheimlicht, sie hatte auch nie etwas - und das war, wie ihr jetzt klar wurde, etwas Seltenes und Kostbares - vor Michel verheimlicht. Innerhalb weniger Stunden wurde Annabelle in jener Nacht bewußt, daß das Leben der Menschen eine ununterbrochene Folge von Lügen ist. Bei der gleichen Gelegenheit wurde sie sich ihrer Schönheit bewußt.
        Die individuelle Existenz und das Gefühl der Freiheit, das sie hervorruft, bilden die natürlichen Grundlagen der Demokra tie. In der demokratischen Staatsform werden die Beziehungen zwischen Individuen üblicherweise durch die Form des Vertrags geregelt. Jeder Vertrag, der über die natürlichen Rechte eines der Vertragspartner hinausgeht oder keine eindeutigen Widerrufsklauseln enthält, wird aufgrund dieser Tatsache als null und nichtig angesehen.

        Vom Sommer 1974 erzählte Bruno gern und mit vielen Einzelheiten, über das darauffolgende Schuljahr jedoch verlor er selten ein Wort; es hinterließ bei ihm allerdings auch nur die Erinnerung an eine zunehmende Gehemmtheit. Ein unbestimmtes zeitliches Segment, jedoch von ziemlich trüber Färbung. Er sah Annabelle und Michel noch genauso oft, im Prinzip waren sie gut befreundet; doch sie sollten bald ihr Abitur machen, und das Ende des Schuljahrs würde sie zwangsläufig trennen. Michel hatte sich verändert: Er hörte Jimi Hendrix und wälzte sich dabei auf dem Teppich, es war sehr intensiv; lange nach den anderen ließ er eindeutige Zeichen pubertären Verhaltens erkennen. Annabelle und er wirkten gehemmt, sie gingen nicht mehr oft Hand in Hand. Kurz gesagt, wie Bruno es einmal seinem Psychiater gegenüber zusammenfaßte, »alles ging den Bach runter.«
        Seit dem kleinen Abenteuer mit Annick, das er in seiner Erinnerung ein wenig zu verschönern suchte (er hatte es übrigens für ratsam gehalten, sie nicht wieder anzurufen), fühlte sich Bruno etwas selbstsicherer. Dennoch war auf diese erste Eroberung keine weitere gefolgt, und er hatte sich eine eiskalte Abfuhr geholt, als er versuchte, Sylvie zu küssen, ein hübsches dunkelhaariges Pü ppchen, das in dieselbe Klasse ging wie Annabelle. Doch da sich ein Mädchen mit ihm eingelassen hatte, warum sollten es dann nicht auch andere tun? Und er entwickelte nach und nach ein vages Bedürfnis, Michel gegenüber eine Beschützerrolle zu spielen. Michel war schließlich sein Bruder und zwei Jahre jünger. »Du mußt etwas mit Annabelle anstellen«, sagte er mehrfach zu ihm, »sie wartet nur darauf, sie ist in dich verliebt, und sie ist das hübscheste Mädchen der Schule.« Michel wand sich auf seinem Stuhl und erwiderte: »Ja.« Wochen vergingen. Er zögerte offensichtlich, die Schwelle zum Erwachsenenalter zu überschreiten. Annabelle zu küssen, wäre für beide die einzige Möglichkeit gewesen, den Schwierigkeiten dieses Übergangs aus dem Weg zu gehen; aber er war sich dessen nicht bewußt; er ließ sich von einem trügerischen Gefühl der Ewigkeit zum Narren halten. Im April rief er unter seinen Lehrern Entrüstung hervor, weil er es versäumt hatte, die Bewerbungsunterlagen für die Vorbereitungsklassen der grandes écoles auszufüllen. Dabei war es offensichtlich, daß er bessere Chancen als jeder andere hatte, zu einer dieser Eliteuniversitäten zugelassen zu werden. Das Abitur fand in anderthalb Monaten statt, und er machte den Eindruck, immer

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