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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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dafür geben, tiefere Gründe, die mit der Molekularstruktur der Peptide oder vielleicht mit den topologischen Bedingungen der Selbstreproduktion zusammenhingen. Es mußte doch möglich sein, diese tieferen Gründe zu entdecken; in jüngeren Jahren, er erinnerte sich noch sehr gut, hätte ihn diese Perspektive zutiefst begeistert.
        Als er 1982 Desplechin kennenlernte, beendete Djerzinski gerade seine Doktorarbeit an der Universität Orsay. Aus diesem Grund nahm er an Alain Aspects großartigen Versuchen über die Untrennbarkeit des Verhaltens von zwei Photonen teil, die nacheinander von ein und demselben Kalziumatom emittiert werden; er war der jüngste Forscher des Teams.
        Aspects Versuche, die exakt, streng und ausgezeichnet dokumentiert waren, sollten unter den Wissenschaftlern in allen Teilen der Welt ziemliches Aufsehen erregen: Zum erstenmal war es nach allgemeiner Ansicht jemandem gelungen, die Einwände, die Einstein, Podolsky und Rosen 1935 gegen den Quantenformalismus erhoben hatten, vollständig zu widerlegen. Die »Bellschen Ungleichungen«, die von Einsteins Hypothesen abgeleitet waren, waren deutlich verletzt worden, und die Ergebnisse stimmten vollkommen mit den Voraussagen der Quantentheorie überein. Somit blieben nur noch zwei Hypothesen. Entweder waren die verborgenen Eigenschaften, die das Verhalten der Elementarteilchen bestimmten, nichtlokal, das heißt, die Elementarteilchen konnten aus einer beliebigen Entfernung einen instantanen Einfluß aufeinander nehmen. Oder aber man mußte auf das Konzept verzichten, demzufolge die Elementarteilchen bei fehlender Beobachtung spezifische inhärente Eigenschaften besitzen: Und dann befand man sich wieder vor einer tiefen ontologischen Leere - es sei denn, man entschied sich für einen radikalen Positivismus und begnügte sich damit, den mathematischen Voraussageformalismus des Beobachtbaren zu entwickeln und verzichtete endgültig auf den Gedanken einer verborgenen Realität. Natürlich schlossen sich die meisten Forscher der zweiten Hypothese an.
        Der erste Bericht über Aspects Versuche erschien im Heft
    48 der Physical Review unter dem Titel: » Experimental realiza tion of Einstein-Podolsky-Rosen Gedankenexperiment: a new violation of Bells inequalities.« Dj erzinski war Mitunterzeichner des Artikels. Wenige Tage daraufbesuchte ihn Desplechin.
    plechin war damals dreiundvierzig und leitete das Institut für Molekularbiologie des CNRS in Gif-sur-Yvette. Er wurde sich in zunehmendem Maße bewußt, daß ihnen irgend etwas Grundlegendes im Mechanismus der Genmutationen entging; und daß dieses Etwas vermutlich mit komplizierteren Phänomenen zusammenhing, die sich auf atomarer Ebene vollzogen.
        Ihr erstes Gespräch fand in Michels Zimmer im Studentenheim statt. Desplechin wunderte sich nicht über die karge, triste Ausstattung: Er hatte mit etwas Ähnlichem gerechnet. Die Unterhaltung zog sich bis spät in die Nacht hin. Die Existenz einer endlichen Liste chemischer Elemente hatte, wie Desplechin in Erinnerung rief, bereits im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts Niels Bohr zu seinen ersten Überlegungen angeregt. Ein Planetenmodell des Atoms, das auf elektromagnetischen Feldern und Gravitationsfeldern basierte, müßte normalerweise zu einer unendlichen Anzahl von Lösungen und einer unendlichen Anzahl möglicher chemischer Grundstoffe führen. Und dennoch ging das gesamte Universum letztlich auf kaum mehr als hundert Elemente zurück; diese Liste war streng festgelegt und unveränderlich. Eine solche Situation, die im Hinblick auf die klassischen elektromagnetischen Theorien und Maxwellschen Gleichungen völlig anormal war, hatte schließlich, wie Desplechin weiter in Erinnerung rief, zur Entwicklung der QuantenMechanik geführt. Die Biologie befand sich heute, seiner Meinung nach, in einer ähnlichen Situation. Die Existenz von identischen Makromolekülen und unveränderlichen zellulären Superstrukturen, die der gesamten Tier- und Pflanzenwelt gemein waren, ließ sich, ihm zufolge, nicht im begrenzten Rahmen der klassischen Chemie erklären. Auf die eine oder andere Weise, die noch nicht genauer zu beschreiben war, mußte das Quantenniveau direkt auf die Steuerung biologischer Phänomene einwirken. Damit eröffnete sich ein völlig neues Forschungsfeld.
        An jenem ersten Abend war Desplechin verblüfft über die geistige Aufgeschlossenheit und die Ruhe seines jungen Ge- sprächspartners. Er lud ihn für den

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