Elementarteilchen
Führerschein gemacht und angefangen, mich für die Kataloge der CAMIF, dem NECKERMANN für Lehrer, zu interessieren. Als es Frühling wurde, haben wir ab und zu einen Nachmittag auf dem Rasen bei Guilmards verbracht. Sie wohnten in einem ziemlich häßlichen Haus in Fontaine-les-Dijon, aber sie hatten einen sehr schönen großen Rasen mit Bäumen. Guilmard war Mathematiklehrer, wir hatten so ziemlich dieselben Klassen. Er war lang und dünn, hielt sich krumm, hatte rotblondes Haar und einen herabhängenden Schnurrbart; er sah ein bißchen aus wie ein deutscher Buchhalter. Er kümmerte sich mit seiner Frau um das Grillen. Der Nachmittag verstrich, wir sprachen über die Ferien und waren etwas angetrunken; meistens waren wir vier oder fünf Lehrerehepaare. Guilmards Frau war Krankenschwester und stand im Ruf, ein supergeiles Weib zu sein; wenn sie sich auf den Rasen setzte, sah man tatsächlich, daß sie nichts unter ihrem Rock trug. Sie verbrachten ihre Ferien am Cap d'Agde, in der Nudistenkolonie. Ich glaube auch, daß sie in die Sauna für Paare am Place Bossuet gingen - zumindest wurde das erzählt. Ich habe nie gewagt, mit Anne darüber zu sprechen, aber ich fand sie sympathisch, sie hatten so etwas Sozialdemokratisches - ganz anders als die Hippies, die in den 70er Jahren bei unserer Mutter herumgehangen hatten. Guilmard war ein guter Lehrer, er war immer dazu bereit, nach dem Unterricht noch dazubleiben, um einem Schüler zu helfen, der Schwierigkeiten hatte. Er spendete auch für Behinderte, glaube ich.«
Bruno verstummte plötzlich. Nach ein paar Minuten stand Michel auf, öffnete die Balkontür und ging nach draußen, um die Nachtluft einzuatmen. Die meisten Leute, die er kannte, hatten ein ähnliches Leben geführt wie Bruno. Bis auf gewisse, sehr ausgesuchte Kreise wie etwa in der Werbe - oder in der Modebran- che ist es in Berufskreisen relativ leicht - zumindest was das Aussehen angeht -, anerkannt zu werden, denn ihre dress-codes sind begrenzt und vorgegeben. Nach ein paar Jahren im Beruf verschwindet das sexuelle Begehren, und die Leute verlagern ihr Interesse auf Eßkultur und Weine; manche seiner Kollegen, die noch viel jünger waren als er, hatten schon damit begonnen, sich einen Weinkeller anzulegen. Das war bei Bruno nicht der Fall, er hatte über den Wein - einen Vieux Papes für 11,95 Franc - keine Bemerkung gemacht. Michel, der die Gegenwart seines Bruders halb vergessen hatte, stützte sich auf das Geländer des Balkons und warf einen Blick auf die Hochhäuser. Es war inzwischen völlig dunkel; fast alle Lichter waren erloschen. Es war der letzte Abend des Mariä-Himmelfahrt-Wochenendes. Er ging zu Bruno zurück, setzte sich neben ihn; ihre Knie berührten sich fast. Konnte man Bruno als ein Individuum betrachten? Das Verfaulen seiner Organe betraf nur ihn selbst, er würde den körperlichen Verfall und den Tod als individuelle Erfahrung erleben. Seine hedonistische Lebenseinstellung und die Kräftefelder, die sein Bewußtsein und seine sinnlichen Begierden strukturierten, waren dagegen seiner ganzen Generation zu eigen. Ebenso wie der Aufbau einer Versuchsreihe und die Wahl einer oder mehrerer Observablen es erlauben, einem atomaren System ein bestimmtes Verhalten - mal Teilchen-, mal Wellenverhalten - zuzuweisen, so konnte auch Bruno als Individuum angesehen werden, aber auf der anderen Seite war er nur ein passives Element der Entfaltung einer historischen Bewegung. Seine Motivationen, seine Wertvorstellungen, seine sinnlichen Begierden, all das unterschied ihn nicht im geringsten von seinen Zeitgenossen. Die erste Reaktion eines frustrierten Tieres besteht im allgemeinen in dem Versuch, verstärkt Kraft aufzubringen, um sein Ziel zu erreichen. Ein ausgehungertes Huhn (Gallus domesticus) zum Beispiel, das durch einen Drahtzaun daran gehindert wird, seine Nahrung zu erhalten, wird immer hektischere Versuche unternehmen, durch diesen Zaun zu ge- langen. Nach und nach wird dieses Verhalten jedoch durch ein anderes ersetzt, das anscheinend keinerlei Ziel verfolgt. So picken Tauben (Col umba livia) hä ufig auf dem Boden herum, wenn sie die begehrte Nahrung nicht erhalten können, obwohl sich auf dem Boden keinerlei Nahrung befindet. Sie verfallen nicht nur in dieses wahllose Pickverhalten, sondern gehen auch oft dazu über, ihre Flügel glattzustreichen; ein solches inadäquates Verhalten, das häufig in Situationen auftritt, die eine Frustration oder einen Konflikt beinhalten, wird
Weitere Kostenlose Bücher