Elena - Ein Leben für Pferde
Richtung.
»Ich geh rüber reiten«, gab ich Bescheid. »Wenn Melike da ist, wollen wir eine Runde ins Gelände.«
»Hm.« Mehr kam nicht. Gute Laune sah anders aus.
Ich rannte nach oben, kontrollierte mein Handy zum millionsten Mal heute. Aber Tim hatte sich nicht gemeldet, also würde es heute wohl nichts mit dem Training werden. Ich zog mich um und ging mit Twix hinüber in den Stall. Der einzige Vorteil von dem G8-Kram war der, dass ich meine Hausaufgaben in der Mittagspause in der Schule machen konnte und dadurch den Nachmittag freihatte.
Natürlich brannte Melike darauf, Lajos alias Waldschrat persönlich kennenzulernen, und mir war alles recht, was mich vom Nachgrübeln über Tim ablenkte.
Es hatte aufgehört zu regnen und wir schafften die Strecke zum Forsthaus in zwanzig Minuten. Die Wintersonne warf ein paar schüchterne Strahlen durch die dicke Wolkendecke, der See glitzerte freundlich und auch das Haus kam mir auf einmal gar nicht mehr unheimlich vor, jetzt, wo ich das Geheimnis des Waldschrats kannte.
Wir lenkten unsere Pferde in den Hof und saßen ab. Lajos kam um die Hausecke. Er trug einen Cowboyhut und grinste, als er uns erkannte.
»Ah, Besuch!«, rief er und setzte den Hut schwungvoll ab.
Erstaunt bemerkte ich, dass sein wilder Vollbart und seine schulterlangen Locken verschwunden waren. Mit dem kurz geschnittenen Haar und ohne Bart sah er viel jünger aus und er schien guter Laune zu sein.
»Das mit dem Waldschrat hat mich dann doch ein bisschen getroffen«, gab er mit einem leichten Grinsen zu und strich sich über das glatt rasierte Kinn.
»So sehen Sie viel besser aus«, erwiderte Melike offenherzig, wie sie eben war. Sie hielt ihm die Hand hin. »Ich bin Melike Koyupinar, Elenas Freundin, und ich habe Ihnen die Polizei auf den Hals gehetzt. Das tut mir leid.«
Lajos ergriff ihre Hand und lächelte. »Entschuldigung angenommen. Eigentlich finde ich es gut, dass ihr so aufmerksam seid. Ich hätte ja tatsächlich ein Pferdedieb sein können.«
»Da drüben ist übrigens das Grab«, sagte ich zu Melike und deutete in die gegenüberliegende Ecke des Hofes.
»Das soll eigentlich eine Pferdeschwemme werden«, erklärte Lajos belustigt. »Kommt, stellt eure Pferde in den Stall, dann zeige ich euch alles.«
Wir verschwiegen ihm, dass wir das Forsthaus und den Hof sicher besser kannten als er und folgten ihm in den Stall. Melike erzählte ihm von dem Gespräch der beiden Männer, das wir neulich belauscht hatten, und Lajos fand auch, dass alles wahrhaftig höchst verdächtig geklungen haben musste.
»Für was ist denn der Name Lajos die Abkürzung?«, fragte Melike.
»Das ist keine Abkürzung, es ist ungarisch«, erwiderte Lajos. »Ich bin in Ungarn geboren, kam aber mit meinen Eltern nach Deutschland, als ich neun war.«
»Dann haben wir beide einen Migrationshintergrund«, stellte Melike zufrieden fest. »Ich bin zur Hälfte türkisch. Ein Muggel-Schlammblut.«
Sie kicherte und ich musste auch lachen. Mit Melike war alles viel einfacher. Schade, dass wir nicht zusammen in einer Klasse waren.
Draußen wurde es heller, die Wolkendecke lockerte auf und die Wintersonne kam zum Vorschein. Lajos legte zwei Strohballen vor die Boxen.
»Bitte sehr, die Damen, nehmt Platz.«
Wir kicherten und setzten uns hin. Es war gemütlich in dem kleinen Stall. Twix sprang auf Lajos’ Schoß und ließ sich von ihm streicheln, ja er schloss sogar genießerisch die Augen, was bei ihm nur selten der Fall war.
»So, jetzt erzählt mir mal was über euch«, sagte er.
»Nein, Sie sind zuerst dran«, entgegnete Melike. »Ich bin total neugierig. Warum wohnen Sie hier im Wald? So ganz allein.«
Ich bemerkte, wie ein Schatten über Lajos’ Gesicht huschte, aber er lächelte gleich darauf wieder.
»Ganz allein bin ich ja nicht«, antwortete er leichthin. »Ich habe immer Pferde hier. Und ich mag es gern ruhig.«
Melike scheute sich nicht, ihn mit Fragen zu löchern: Was machen Sie mit den Pferden? Wie finden die Leute Sie hier mitten im Wald? Wo haben Sie vorher gewohnt? Mir war es ein bisschen peinlich, aber Lajos antwortete tatsächlich auf jede Frage. Er hieß mit Nachnamen Kertészy, war eigentlich Tierarzt und hatte sogar einen Doktortitel. In den letzten sechs Jahren hatte er in den USA und in der Schweiz gelebt, aber dann war seine Mutter sehr krank geworden, und deshalb war er nach Deutschland zurückgekehrt. Durch Zufall hatte er seinen alten Freund Friedrich Gottschalk wiedergetroffen und
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