Elena - Ein Leben für Pferde
plötzlich einen Verdacht hatte.
Meine Familie war wieder einmal ausgeflogen, als ich auf dem Amselhof eintraf. Im Stall war nichts los, aber die Gaststätte war schon geöffnet. Es war noch früh, alle Tische leer. Die ersten Gäste kamen normalerweise gegen halb sieben.
»Na, Elena.« Oma stand hinter dem Tresen und polierte Gläser. »Wo warst du denn den ganzen Nachmittag?«
»Ausreiten«, erwiderte ich und marschierte quer durch den Schankraum zu der großen Tafel, die an der Wand über dem Stammtisch hing. Seit 1978 wurden hier die Vereinsmeister verewigt, und genau hier glaubte ich, den Namen Lajos schon einmal gelesen zu haben.
»Was hast du denn?«, fragte Oma neugierig.
Ich antwortete nicht, studierte angestrengt die Namen auf den kleinen bronzefarbenen Plättchen, die Opa nach jeder Vereinsmeisterschaft anfertigen ließ und auf die Tafel klebte.
Plötzlich zuckte ich zusammen. Im Jahr 1986 war Lajos Kertészy mit Wotan Vereinsmeister der Klasse L gewesen! Und im Jahr 1987 wieder, diesmal mit einem Pferd namens Calico. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Lajos hatte tatsächlich früher hier gelebt, aber nicht nur das: Er war auf dem Amselhof geritten, zusammen mit Papa und – ich traute meinen Augen kaum – Richard Jungblut! Auch der Name von Tims Vater fand sich ein paarmal auf der Tafel.
Ich ließ mich auf die Eckbank sinken und starrte vor mich hin. Warum hatte Lajos mir nicht gesagt, dass er Papa kannte? Ich verstand gar nichts mehr.
»Elena?«
Ich hob den Kopf und blickte in Omas besorgtes Gesicht.
»Was ist denn los?«
»Oma«, flüsterte ich. »Kennst du einen Lajos von früher?«
»Ja, natürlich«, erwiderte sie. »Das war der Sohn von Dr. Kertészy aus Königshofen. Er ist damals hier geritten, mit deinem Papa zusammen. Wieso willst du das wissen?«
»Ach, nur so.«
Ich stand auf und rang mir ein Lächeln ab. Mama hätte mich sicher nicht so schnell entkommen lassen, aber Oma wurde abgelenkt, weil die ersten Gäste des Abends eintrafen.
Ich lief durch den Flur, nahm Twix mit und schloss unsere Haustür auf. Papa, Lajos und Tims Vater waren früher alle zusammen hier auf dem Amselhof geritten. Sie hatten sich also gut gekannt, vielleicht waren sie sogar Freunde gewesen. Aber dann musste irgendetwas passiert sein, was diese Freundschaft zerstört und in Hass verwandelt hatte.
Ich streifte mir die Schuhe von den Füßen und ging in Mamas Büro. Einen Moment stand ich unschlüssig herum und betrachtete ihren Schreibtisch, die Schränke und vollgestopften Bücherregale, dann begann ich systematisch zu suchen. Wonach ich suchte, wusste ich nicht genau, bis ich es gefunden hatte: Ganz unten in einem der Wandschränke stand ein Karton, auf den Mama mit ihrer ordentlichen Handschrift »Alte Fotos« geschrieben hatte. Ich zog den Karton heraus, hob den Deckel ab und ergriff das erste Fotoalbum. 1986. Da war Mama zwölf gewesen. Neugierig blätterte ich die Seiten durch. Es waren Schnappschüsse von Mama, ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Viola, die ziemlich früh gestorben war. Urlaubsfotos, Fotos aus der Schule und – vom Reiten!
Urlaub auf dem Amselhof, Sommer 1986 , las ich. Damals hatte es hier noch ganz anders ausgesehen, die Bäume waren klein gewesen, Oma und Opa viel jünger. Viola, Micha, Lajos, Linda, Richie und ich , stand unter einem Foto, das sechs Jugendliche auf Pferden zeigte. Das war ja der Hammer! Zuerst glaubte ich, Tim auf den Fotos zu sehen, so ähnlich sah er seinem Vater, als der noch jünger gewesen war.
Ich blätterte Album um Album durch. Mama und ihre Schwester mussten regelmäßig Ferien auf dem Amselhof gemacht haben, und ich sah, wie die sechs Freunde im Zeitraffer älter wurden. Zwischendrin klebten Zeitungsausschnitte, Berichte über Turniere, auf denen vor allen Dingen die drei Jungs und Mama sehr erfolgreich geritten waren.
Die Mannschaft des Reitvereins Amselhof Steinau nicht zu schlagen , lautete die Überschrift eines Artikels aus dem Jahr 1988. Papa, Lajos und Richard Jungblut hatten die hessischen Meisterschaften in der Vielseitigkeit gewonnen. Das Bild zeigte drei junge Männer auf dem obersten Treppchen des Siegerpodests, die sich lachend umarmten. Natürlich wusste ich aus Erzählungen, dass Papa und Mama sich schon als Jugendliche kennengelernt hatten, aber in diesen Geschichten fehlten immer die anderen, die offensichtlich über Jahre hinweg fest dazugehört hatten: Lajos, Viola, Linda und Richard Jungblut.
Die Zeitungsartikel
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