Elena - Ein Leben für Pferde
vertraute Knattern von Tims Mofa, doch das Einzige, was ich hörte, war das Rauschen des Windes in den kahlen Ästen der Bäume. Ich fühlte mich mit einem Mal entsetzlich einsam. Ohne Tim und Melike kam mir die Wiese fremd und fast unheimlich vor.
Zehn nach drei. Der Wind wurde stärker, es begann wieder zu regnen. Ich setzte die Kapuze auf und hauchte meine steif gefrorenen Finger an. Was war nur passiert? Am Donnerstagmorgen hatte er doch noch im Bus gesessen und ganz normal mit mir geredet!
Halb vier. Tim, Tim, Tim – bitte, bitte komm! Eine Träne lief mir über die Wange. Dann noch eine. Er kam nicht. Er rief nicht an. Er schickte keine SMS.
Um zehn vor vier schleppte ich mich zum Waldrand, hob mein Fahrrad auf und fuhr los. Ich fühlte mich so elend und verlassen, als sei ich der letzte Mensch auf dieser Welt. Tim wollte nichts mehr von mir wissen. Das war mir jetzt klar. Und es war entsetzlich.
Als ich auf dem Amselhof ankam, war Papas Auto weg. Ich stellte mein Fahrrad ab und ließ Twix aus dem Flur von Opa und Oma.
Unten in unserem Haus war alles dunkel, nur von oben aus Christians Zimmer erklangen gedämpft die Geräusche eines Computerspiels. Mamas Büro war leer. Offenbar hatte mich niemand vermisst. Ja, ich hätte tot irgendwo herumliegen können und sie lebten alle ganz normal weiter!
Deprimiert schleppte ich mich die Treppe hoch. Christian saß mit konzentrierter Miene und halb geöffnetem Mund vor seinem Computer und ballerte auf irgendwelche Monster. Den Verlust von Ariane schien er locker verschmerzt zu haben.
»Wo sind Mama und Papa?«, fragte ich.
»Beim Steuerberater, glaube ich. Und danach gehen sie noch mit irgendwem essen«, entgegnete mein Bruder, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.
Da er sonst nichts mehr von sich gab, ging ich hinüber in mein Zimmer und kroch in mein Bett. Twix schlüpfte sofort unter die Bettdecke, ich spürte seine tröstliche Wärme an meinen eiskalten Beinen.
Mein Handy meldete sich wieder. Melike. Ich seufzte und tippte ihre Nummer ein. Sie meldete sich sofort.
»Was ist denn los mit dir?«, schrie sie in mein Ohr. »Mann, ich hab mir Sorgen um dich gemacht, Elena!«
»Tim hat sich nicht ein einziges Mal bei mir gemeldet«, schluchzte ich los. »Sein Handy ist aus. Und Ariane war heute auch nicht in der Schule.«
»Aber das hat doch nichts zu sagen«, versuchte Melike mich zu beruhigen.
»Ich hab an der Wiese eine Stunde auf ihn gewartet, ich bin fast erfroren. Papa und Mama sind nicht da. Ich bin allen egal!«, sagte ich verzweifelt.
» Mir bist du nicht egal«, widersprach Melike mir energisch. »Ich ruf jetzt bei Tims Mutter an, ja? Ich meld mich gleich wieder.«
Und damit beendete sie das Gespräch. Das war typisch für Melike, die liebste und beste Freundin, die man haben konnte. Wie hypnotisiert starrte ich mein Handy an und wartete auf Melikes Rückruf.
»Und?«, rief ich aufgeregt, als sie endlich anrief.
»Was für eine komische Kuh«, erwiderte Melike. »Tim ist angeblich übers Wochenende mit seinem Vater unterwegs. Mehr hat sie nicht gesagt. Also, vielleicht hat er sein Handy zu Hause vergessen oder er hat seine Karte nicht aufgeladen und kann sich deshalb nicht bei dir melden. Jetzt bleib mal ganz locker, okay?«
»Meinst du echt?«, fragte ich zittrig.
»Ja, klar. Und nun erzähl mir von Lajos.«
Ach ja, Lajos! Über meinen Kummer hatte ich den Besuch bei ihm fast vergessen. Ich berichtete Melike also haarklein von Blue Fire Lady, wiederholte auf ihr Drängen hin beinahe jedes Wörtchen, das Lajos von sich gegeben hatte, nur die lateinischen Ausdrücke ließ ich weg, weil ich sie nicht aussprechen konnte. Als ich fertig war, stieß Melike einen abgrundtiefen Seufzer aus.
»Lajos Kertészy. Er ist sooooo süß«, sagte sie verträumt.
»Spinnst du?«, antwortete ich. »Er ist doch nicht süß ! Der ist mindestens so alt wie … wie mein Vater.«
»Na und? Er ist trotzdem süß. Schon dieser Name! Lajos … Lajos … wow! Und er schreibt Bücher …«
»Melike, du hast echt ein Rad ab.« Ich schüttelte den Kopf. Süß! Ich fand Lajos auch okay. Er war anders als die meisten Erwachsenen, und dazu war ich tief beeindruckt von seinem Wissen über Pferde. Er war mit Professor Pelzer, dem Mannschaftstierarzt der Olympiareiter, per Du! Unglaublich! Aber bei dem Wort »süß« konnte ich nur an zwei blaue Augen denken.
Wir telefonierten noch eine Weile, dann verabredeten wir uns für den nächsten Tag zum Reiten. Die Vorstellung,
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