Elenium-Triologie
werden, auch wenn er die ganze Nacht dazu brauchen würde.
Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Straße leer war, ging er weiter und hielt sich auch jetzt wieder im tiefsten Schatten. An einer Ecke lehnte ein zerlumpter Bettler unter dem trüb orangenen Glühen einer Fackel an einer Hauswand. Er hatte eine Binde um die Augen und mehrere offenbar echte Wunden an Armen und Beinen. Nur war jetzt nicht die rechte Zeit zum Betteln, und so vermutete Sperber, daß der Mann aus einem anderen Grund hier saß. In diesem Augenblick fiel unweit von ihm ein Dachziegel krachend auf die Straße.
»Almosen«, flehte der Bettler mit verzweifelter Stimme, obwohl Sperbers Stiefel keinen Laut verursacht hatten.
»Guten Abend«, grüßte der große Ritter leise und überquerte die Straße. Er warf ein paar Münzen in die Schale des Bettlers.
»Habt Dank, hoher Herr. Gott segne Euch.«
»Ihr dürftet mich eigentlich gar nicht sehen können, Nachbar«, erinnerte ihn Sperber. »Und deshalb auch nicht wissen, ob ich ein hoher Herr oder ein einfacher Bürger bin.«
»Es ist spät«, entschuldigte sich der Bettler, »und ich bin ein bißchen müde. Da vergesse ich es manchmal.«
»Sehr nachlässig«, rügte Sperber. »Ihr müßt besser aufpassen. Übrigens, grüßt Platime von mir.« Platime war ein ungeheuerlich fetter Mann, der die Unterwelt von Cimmura mit eiserner Faust regierte.
Der Bettler schob die Augenbinde ein Stückchen hoch und starrte Sperber an. Seine Augen weiteten sich, als er ihn wiedererkannte.
»Und sagt Eurem Freund da oben auf dem Dach, er soll sich nicht aufregen.
Aber trotzdem kann es nicht schaden, wenn er besser aufpaßt, wo er hinsteigt. Der letzte Ziegel, den er losgetreten hat, hätte mich fast erschlagen.«
»Er ist neu bei uns!« Der Bettler rümpfte die Nase. »Er hat noch viel zu lernen, bevor er ein guter Einbrecher wird.«
»Da kann ich Euch nur beipflichten.« Sperber blickte ihn an. »Vielleicht könnt Ihr mir helfen. Talen hat mir von einer Schenke an der Ostmauer der Stadt erzählt. Sie soll eine Dachkammer haben, die der Wirt manchmal vermietet. Wißt Ihr zufällig, wo ich sie finden kann?«
»Die Schenke ist in der Ziegengasse, Ritter Sperber. Ihr erkennt sie an dem Schild, das ein Bündel Trauben darstellen soll. Ihr könnt sie nicht verfehlen.« Der Bettler blinzelte zu Sperber hoch. »Wo treibt Talen sich eigentlich herum? Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen.«
»Sein Vater kümmert sich um ihn.«
»Ich hab' gar nicht gewußt, daß er einen Vater hat. Der Junge wird es weit bringen, wenn er nicht vorher am Galgen baumelt. Ich glaub', er ist der beste Dieb in ganz Cimmura.«
»Ich weiß«, bestätigte Sperber. »Mir hat er schon ein paarmal die Taschen ausgeleert.« Er ließ noch ein paar Münzen in die Schale fallen. »Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr es für Euch behieltet, daß Ihr mich heute nacht gesehen habt.«
»Ich habe Euch doch gar nicht gesehen, Ritter Sperber.« Der Bettler grinste.
»Genausowenig wie ich Euch und Euren Freund gesehen habe.«
»Dann sind wir uns ja einig.«
»Zweifellos. Viel Glück bei Eurem Vorhaben.«
»Und bei Eurem.«
Sperber lächelte und setzte seinen Weg fort. Seine Verbindungen zur unteren Schicht der cirnmuranischen Gesellschaft hatte sich wieder einmal bezahlt gemacht. Obwohl Platime nicht gerade ein Freund war, konnten er und die Unterwelt, über die er herrschte, recht nützlich sein. Sperber wich in die Parallelstraße aus, um zu vermeiden, daß er den Wächtern in die Arme lief, falls der unachtsame Einbrecher auf dem Dach entdeckt würde.
Wie immer, wenn er allein war, beschäftigten sich Sperbers Gedanken mit seiner Königin. Er kannte Ehlana, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie allerdings zehn Jahre lang, während er im Exil in Rendor gewesen war, nicht gesehen. Es drehte ihm das Herz um, wenn er daran dachte, daß sie nun auf ihrem Thron vollkommen in diamanthartem Kristall eingeschlossen war. Er bedauerte bereits, daß er an diesem Abend die Gelegenheit nicht genutzt hatte, Primas Annias zu töten. Ein Giftmörder ist immer verabscheuungswürdig, und der Mann, der Sperbers Königin vergiftete, hatte sich damit in Todesgefahr gebracht, denn Sperber pflegte alte Rechnungen zu begleichen, sobald sich die Chance bot.
Da hörte er verstohlene Schritte hinter sich im Nebel. Er trat rasch in einen Hauseingang und verhielt sich völlig still.
Es waren zwei Männer in unauffälliger Kleidung. »Kannst du
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