Elf Leben
haben. Kaum dass er aufgelegt hat, überlegt Xavier, ob er sie noch einmal anrufen und behaupten soll, ihm wäre eine Verabredung wieder eingefallen. Wenn sie mittags zu ihm kommt, ist das eine Sache, aber an einem Samstagabend! Aber er ruft nicht noch einmal an, sondern sitzt einfach nur da, dreht das Telefon hin und her und löscht schließlich das Wort PUTZFRAU hinter ihrem Namen.
Zur selben Zeit verlässt Maggie das Soho Hotel. Ihr Vortrag war passabel, mehr aber auch nicht. Man hat ihren Namen wie »Rhys« ausgesprochen statt wie »Rice«, und einige Leute haben gekichert, als wäre es eine bewusste Spitze. Irgendein alter Blödmann schlief in einer Ecke, der Kopf fiel ihm nach vorn auf die Brust, und jedes Mal, wenn sie den Blick durch das Publikum schweifen lassen wollte, wie ihr Rhetorik-Coach es ihr geraten hatte, blieb er an der entmutigenden Wölbung seiner Glatze hängen. Danach gab es ein paar halbherzige Gratulationen und Händedrücke, und sie nahm nicht einmal einen Drink an der Bar: Sie muss zurück in die Praxis, zu ihrem letzten Termin. Sie hat dem Klienten, Roger, eine SMS geschrieben, dass sie sich verspäten wird, aber er hat nicht geantwortet. Roger ist der Geschäftsführer eines Immobilienbüros, Frinton, und kommt wegen Problemen mit dem Selbstwertgefühl zu ihr. Er hat furchtbaren Mundgeruch. Sie wünschte, dieser Tag wäre zu Ende.
Sie sitzt auf dem Rücksitz eines Taxis, das in fünfzehn Minuten fünfzig Meter vorankommt. Warum hat sie um diese Tageszeit nicht die U-Bahn genommen? Sie schaut in ihren Taschenspiegel: Sie sieht grauenhaft aus – müde, mit ruinierter Frisur vom letzten Friseurbesuch und Tränensäcken unter den Augen. Sie sieht eher wie sechzig aus als wie vierzig. In ihrem Bauch rumort es rebellisch. Sie rutscht auf dem Sitz herum und versucht, das Fenster herunterzulassen, aber es lässt sich nicht öffnen.
Der Taxifahrer, wie viele seiner Kollegen in London, tut erstaunt über den Verkehr auf den Straßen, als wäre das Auto irgendein seltenes, neumodisches Transportmittel.
»Unglaublich«, murmelt er, deutet auf die stillstehenden Fahrzeuge um sie herum und schüttelt den Kopf über den Eigensinn der anderen. »Unglaublich.«
Derweil sitzt Roger Willis ungeduldig in Maggies Praxis und versucht erfolglos, sich für eine der ausliegenden Zeitschriften zu interessieren, ein Männermagazin mit Artikeln über die neuesten Technikspielereien, Frauen, die besten hundert Clips auf YouTube und noch mehr Frauen. Er blickt noch einmal auf die SMS von Dr. Reiss – Tut mir leid, komme zehn Min später –, aber selbst das erinnert ihn an die fehlgeleitete SMS von Ollie heute Vormittag. Und dabei dachte er immer, Ollie würde ihn mögen oder wenigstens respektieren. Aber nein, überlegt Roger, offensichtlich machen sich Ollie und Sam über mich lustig. Meinen Atem. Was soll ich denn machen? Ich lutsche alle zehn Minuten ein Pfefferminzbonbon. Ich putze mir drei, vier Mal am Tag die Zähne. Ich habe es mit Sprays versucht, mit Kaugummis, mit allem. Ich habe Brenda gebeten, keinen Knoblauch und keine Gewürze mehr ans Essen zu tun. Was soll ich denn bitte noch machen?
Das ist natürlich typisch, dass man ihn warten lässt. Roger sieht gereizt zu der Empfangsdame hinüber, die mit ihren Fingernägeln die Tastatur zum Klappern bringt, und sie erwidert seinen Blick mit einem stumpfen, herablassenden Lächeln. Er kann damit umgehen, dass Dr. Reiss von seiner Depression weiß, es ist ihr Beruf, aber dass ihn all diese Frauen so ansehen – das spröde Fräulein am Empfang, die Putzfrau, selbst die anderen Patienten … nein, nicht Patienten, Klienten nennen sie sie ja. Jeder, der ihn in diesem Gebäude sieht, weiß, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Womöglich erkennt ihn jemand, ein großer Verkäufer, ein anderer Makler oder ein Kunde, wie sieht denn das aus, wenn er vom Psychiater kommt?
Das ist mal wieder typisch, dass er hier sitzt und wartet. Alle denken, mit Roger Willis kann man es ja machen. Über den kann man sich per SMS und in der Mittagspause lustig machen. Er hat Haarausfall, und dann ist da sein Atem. Roger spürt, wie er in einen Strudel der Selbstverachtung gerät, genau das, was er Dr. Reiss zufolge vermeiden soll; betrachten Sie Ihre Sorgen getrennt voneinander, ein negativer Gedanke führt zum nächsten und zum übernächsten und schon kommt die Lawine ins Rollen. Schön und gut, Dr. Reiss hat gut reden, sie ist ja nicht mal da, immer noch nicht, und es ist
Weitere Kostenlose Bücher