Elf Leben
Song«, stottert Murray.
Kaum dass das Intro beginnt, sieht er Xavier an:
»W-w-w-wo kam denn das auf einmal her?«
Xavier dreht sich in seinem Sessel hin und her und blickt in die Sedimentschichten auf dem Boden seiner Kaffeetasse.
»Ging mir so im Kopf herum.«
»Wer ist denn jetzt schon wieder Pippa?«
»Eine Frau.«
»Die, mit der du neulich das Date hattest, die Australierin?«
»Nein, die andere. Die, äh, meine Putzfrau.«
Murray sieht ihn an und zupft verständnislos an seiner Stirnlocke.
»Du hast was mit deiner Putzfrau angefangen?«
»Nein, das war anders. Es war mehr so eine einmalige Sache.«
»Du hattest einen One-Night-Stand mit deiner Putzfrau?«
»Im Bett waren wir nicht. Ich hab’s vermasselt.«
»Ich hatte mich gerade mal daran gewöhnt, dass du eine Putzfrau hast , ganz zu schweigen davon, dass du mit ihr schläfst.«
»Ich auch.« Xavier hustet. »Haben wir aber nicht. Dazu kam es nicht.«
Im Laufe der letzten Stunde erhalten sie eine Flut von Anrufen, E-Mails und SMS von Hörern. Wer ist Pippa?, wollen die Leute wissen. Erzähl uns mehr darüber. Was ist passiert? Ist es was Ernstes? Doch von der einen, von der sich Xavier ein Lebenszeichen erhofft hatte, kommt nichts, und am Ende der Nacht ist die Euphorie über seinen untypischen Aufruf verpufft, und an ihre Stelle tritt das ungute Gefühl, zu leichtfertig zu viel von sich preisgegeben zu haben. Wortlos fahren Murray und Xavier nach Hause, jeder in seinen eigenen Gedanken verstrickt.
Was Pippa angeht: Ihr Wecker klingelt zwei Stunden, nachdem Xavier zu Bett gegangen ist. Den ersten Termin hat sie um neun Uhr, bei der reichen Dame in Marylbone, die das Haus jetzt mit ihrem Lebensgefährten und ihrem Sohn bewohnt, bis sie einen neuen Mieter findet, und es, wie sie sagt, »tipptopp in Schuss« halten will. Als Pippa zum Frühstück in die Küche kommt, läuft das Radio: Wendy wird wohl nie lernen, irgendetwas auszuschalten, auch durch solche Kleinigkeiten das Geld zusammenzuhalten. Es geht um die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Berlin, für die Pippa, wäre nicht alles anders gekommen, jetzt vielleicht trainieren würde. Vielleicht hatte Xavier doch recht, lautet das Graffito an einer Wand von Pippas müdem Geist, vielleicht wäre man am besten beraten, sich einfach mit dem abzufinden, was man bekommen hat.
Pippa schrubbt vier Stunden lang Flecken aus dem Teppichboden, wischt Vasen ab und staubsaugt um einen Teenager herum, der ihren Blick meidet und sich weigert, irgendetwas von den Kleidungsstücken, Zeitschriften, Tüten und all dem Krimskrams aufzuheben, der um ihn herum auf dem Boden liegt wie angespültes Treibgut. Die Hausbesitzerin kocht mehrere Kannen Tee, bietet Pippa aber nichts zu trinken an. Am Ende ihres Einsatzes muss Pippa fünf schwarze Müllsäcke zum Container am Ende der Straße bringen, und jedes Mal, wenn sie sich bückt, um einen davon aufzuheben, knirschen ihre Knie. Kriege ich irgendwas nicht mit, fragt sich Pippa, als es ihr kalt in den Nacken nieselt, oder war ich schon immer hierfür gemacht?
Auch Clive Donald hat den Bericht über die britischen Medaillenhoffnungen gehört, als er sich am Morgen zum Gehen bereitmachte, aber er interessierte ihn nicht. Während Pippa putzt und schrubbt, lässt Clive im Lehrerzimmer hier und da eine Bemerkung fallen – es könne sein, dass er »nicht mehr allzu lange da« sei, vielleicht gebe es »bald Neuigkeiten«. Zu Hause hat er sich einen Vorrat an Schlaftabletten angelegt, und er war auf Internetseiten, wo sich wesentlich jüngere Leute unter anderem darüber austauschen, wie viele Tabletten man braucht, um sich umzubringen. Alle sind mit den Gedanken bei der kurz bevorstehenden Schulinspektion, und aus seinen Bemerkungen ergibt sich kein richtiges Gespräch.
Zum Mittag holt sich Pippa an der Tankstelle gegenüber ein Sandwich. Am Nachmittag putzt sie noch einmal vier Stunden, nicht weit entfernt in Bayswater, und danach kellnert sie unten in Surrey. Sie wird von Victoria aus die Overground-Bahn nehmen müssen. Schon jetzt sieht sie die vollgestopften Gänge des Pendlerzugs vor sich, den Halbwüchsigen mit den rauschenden Kopfhörern, der sich gegen sie lehnt, und die Besserverdiener, die sie auf dem Rückweg in ihre Satellitenstädte abfällig betrachten.
Am Samstagmorgen – nachdem er in der vergeblichen Hoffnung auf etwas von Pippa seine Mails gecheckt hat – hat Xavier gerade den Wasserkocher angestellt, als er unten Mels Stimme und das
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