Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
Vom Netzwerk:
übliche Gepolter hört, mit dem Jamie gegen seinen Willen in die Wohnung gezerrt wird. Er geht hinunter.
    Jamie schreit und zappelt wütend mit den Beinen, wie ein Tintenfisch im Netz.
    »Nein! Nein! Nein!«, protestiert Jamie.
    Er windet sich aus Mels Griff, rennt zurück zur Haustür und will hinaus, aber Xavier springt die Treppe hinunter und schlägt, über seinen dreijährigen Nachbarn hinweg, gerade noch rechtzeitig die Tür zu. Jamie brüllt vor Enttäuschung. Die beiden Erwachsenen tauschen nach dem knappen Sieg über ihren kleinen Gegner einen triumphierenden Blick aus.
    »Danke.« Mel schaufelt sich erschöpft das Haar aus den Augen. »Allmählich wird das zur Gewohnheit.«
    »Keine Ursache.« Xavier wirft einen Blick auf ihre Einkaufstüten. »Ich hätte dir was besorgen können.«
    »Oh nein, du warst schon sehr –« Mel muss wieder husten. »Du musst denken, ich kann kaum für mich selbst sorgen.«
    »Du sorgst für dich selbst und für ein Kind. Das ist mehr, als ich auf die Reihe kriege.«
    Mel lächelt. Schon das zweite erfolgreiche Gespräch in den letzten paar Tagen, denkt Xavier, ich mache Fortschritte.
    Er kocht sich etwas zum Mittagessen und überlegt, was er mit dem Nachmittag anfangen soll, vor dem Umtrunk am Abend. Er hat Anthony erst einmal getroffen, da arbeitete er gerade ein paar Monate mit Murray zusammen, und der alte Mann, der das neue Talent unbedingt kennenlernen wollte, lud ihn zum Liquid Lunch in Holborn ein. Xavier erinnert sich an Anthonys Rotwein-und-Rumpsteak-Gesicht und seine unangenehm weit geblähten Nasenflügel.
    Er hat sich fast zu einem langen Spaziergang entschlossen, als es an der Tür klingelt. Wieder geht er hinunter. In Mels Wohnung plärrt der Fernseher, und Xavier hört sie erklären: »Nein Schatz, das ist für den Mann von oben … für Xavier, genau.« Er öffnet die Tür, und da steht, in ihrem formlosen Regenmantel und mit dem blau-gelben Wäschesack vor den Füßen, Pippa.
    Xavier muss sich sehr zusammenreißen, ihr nicht sofort um den Hals zu fallen. Er spürt einen rasenden Puls im Hals, hört ihn im Ohr.
    »Was ist, willst du mich nicht reinlassen?«
    Bevor Xavier antworten kann, ist sie schon an ihm vorbei und auf der Treppe. Er folgt ihr und geht dabei im Geiste die Zimmer durch – alles sauber, alles an seinem Platz?
    »Ich kann nicht lange bleiben, ich muss in einer Stunde in Kentish Town sein, das ist zwar nicht sehr weit, aber die Busse kann man total vergessen hier in der Gegend, in jeden zweiten lassen sie einen nicht mehr rein oder irgendwas geht schief, jedenfalls darf ich nicht zu spät kommen, aber ich dachte mir, ich komm mal vorbei, weil meine Schwester anscheinend gehört hat, wie du im Radio von einer Frau gesprochen hast, die ich sein könnte.«
    Sie bleibt im Flur stehen und dreht sich zu ihm um, und die beiden sehen sich an. Pippa senkt den Blick. Xavier streicht sanft über eine ihrer Hände. Er bemerkt ihre abgesplitterten Fingernägel.
    »Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich je wiedersehe.«
    »Ich hab mich über dich geärgert.« Raubtierhaft zuckt ihr Blick auf der Suche nach Schmutz herum.
    »Ich weiß. Ich habe dir SMS geschickt, ich hab angerufen –«
    »Mein Handy«, fällt ihm Pippa herrisch ins Wort, »steckt seit neulich Abend in deinem Sofa.«
    Xavier sieht sie ungläubig an, und sie führt ihn ins Wohnzimmer und schält lässig die Kissen vom Sofa, bis der kahl wirkende Rahmen zum Vorschein kommt. Sie steckt den Arm in den Spalt und fischt das Handy heraus, das sich, seit sie vor zwei Wochen ging, dort in die Polster schmiegte, ungestört von SMS , da der Akku leer war, und unentdeckt von Xavier, der seit den Ereignissen an jenem Abend kaum im Zimmer war.
    »Du hattest zwei Wochen lang kein Telefon?«
    »Ich habe Festnetz, falls dir das noch was sagt«, sagt Pippa stolz. »Die Nummer gebe ich allen meinen Kunden.«
    »Aber ihre Nummern und alles –«
    »Ja, das war wirklich ziemlich umständlich.«
    Xavier liegt die Frage auf der Zunge, warum sie sich nicht einfach ein neues Handy gekauft hat, aber dann fällt ihm ein, dass das genau die Art von Frage ist, die jemand mit einem beruhigenden Kontostand zu leichtfertig stellen könnte.
    »Deshalb bin ich zurückgekommen, um es zu holen. Ich hab erst nach ein paar Tagen gemerkt, dass es weg ist, dann musste ich überlegen, wo ich es verbummelt haben könnte« – sie zählt an den Fingern ab, wie er mit einem innerlichen Schauder der Vertrautheit bemerkt –

Weitere Kostenlose Bücher