Elfenblick
holen.«
»Dafür brauchst du aber ’ne offizielle Anforderung, das ist dir doch wohl klar. Ohne den grünen Schrieb geht hier gar nix.« Man konnte Friedhelm Wächter ansehen, wie leid es ihm tat, dass er Mageli nicht helfen konnte.
»Das ist aber blöd, den hat mir Frau Blumherr gar nicht gegeben. Wissen Sie, ich bin neu, erster Tag heute. Schulpraktikum. Das kommt bestimmt nicht gut an, wenn ich ohne die Akte wieder oben auftauche.«
»Um was für eine Akte geht es denn?«
»Zendrich, August, so eine Sache von vor zwei Jahren.« Mageli hatte sich vorher genau überlegt, was sie sagen würde. Sie hoffte, dass dieses Archiv so ähnlich funktionierte wie eine Bücherei: alphabetische Ordnung, die Namen mit Z möglichst weit hinten. Und sie hatte Glück, doppelt Glück. Das Archiv des städtischen Krankenhauses war tatsächlich so sortiert. Und Friedhelm Wächter hatte tatsächlich Gefallen an seiner Besucherin gefunden.
Brummelnd erhob er sich von seinem Schreibtisch, knipste die Neonröhren an, die den riesigen Raum mit den hohen Regalen in grelles Licht tauchten, und schlurfte in karierten Pantoffeln durch den langen Gang davon. Als er in einer der hinteren Regalreihen verschwand, schlich Mageli so leise wie möglich zu den mittleren Regalen, wo sie den Buchstaben M vermutete. Die Akten standen in Stehordnern, auf denen die Namen notiert waren. M wie Meier füllte, wie nicht anders zu erwarten, allein zwei komplette Regale. Gut, dass ihr Familienname sich wenigstens mit y schrieb.
Sie hörte Herrn Wächter leise fluchen: »Hält sich keiner an die Ordnung. Muss doch irgendwo hier sein.«
So schnell wie möglich holte sie den Meyer-Ordner aus dem Regal und riss die einzelnen Akten heraus. Meyer, Albrecht. Meyer, Britta. Meyer, Erna. Meyer, Friedrich. Meyer, Felix. Meyer, Linda.
Ihre Mutter war genau viermal in ihrem Leben im Krankenhaus gewesen, jeweils um dort eines ihrer Kinder auf die Welt zu bringen. Und vier verschiedene Akten gab es auch zu ihrem Namen. Mageli hätte am liebsten laut gejubelt. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war ihre Akte noch da. Sie zerrte einen Bleistift aus ihrem Rucksack und den Zettel aus ihrer Jeans und schrieb die ersten drei Namen ab, die ihr ins Auge fielen: Dr. Ralph Janssen, Dr. Andrea Ehmich-Mohl und Monika Theissen, Hebamme. Dann stopfte sie die Akten wieder in den Stehordner und schob ihn ins Regal.
Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie sicher war, man müsste es hören können. Aber Friedhelm Wächter sah nicht misstrauisch aus, als er wieder zu seinem Schreibtisch geschlurft kam. Nur genervt.
»Es tut mir wirklich leid, Mädchen, aber irgendein Idiot hat die Akte falsch einsortiert oder weggenommen und nicht wiedergebracht oder was weiß ich. Hier kommt ständig irgendwas weg. Wahrscheinlich kriegen die Akten gelegentlich Füße und machen sich selbstständig. Keine Ahnung.«
Es gelang Mageli, ein angemessen zerknirschtes Gesicht aufzusetzen.
»Da kann man wohl nichts machen. Vielen Dank für Ihre Mühe.«
Sie spürte Friedhelm Wächters Blick in ihrem Rücken, bis sie durch die Tür verschwunden war.
Der Gang von Station 4c, Geburtshilfe, war leer. Die Wände waren sonnengelb gestrichen, was wohl freundlich wirken sollte. An fast jeder freien Stelle hingen große Bilderrahmen mit Collagen aus unzähligen Babyfotos. Winzige zahnlose und meist haarlose Wesen, die meisten sahen ziemlich zerknittert aus. In der Mitte des Flurs stand auf der rechten Seite eine Sitzgruppe aus Rattanmöbeln, auf dem Tischchen lag ein Stapel Zeitschriften. Durch eine geschlossene Tür drang das Schreien eines Babys. Außerdem war Gelächter zu hören. Es kam aus einem Zimmer am Ende des Flurs. Das Schwesternzimmer, stellte Mageli fest, als sie vor der großen Glasscheibe ankam, die den Raum vom Flur abgrenzte. Dahinter saßen zwei Frauen in weißen Kitteln an einem Holztisch und tranken Kaffee. Mageli klopfte an die Scheibe, worauf die beiden Schwestern sich zu ihr umdrehten. Die jüngere stand auf und kam zur Tür.
»Ja?« In ihrer Stimme schwang ein Unterton, der deutlich zu verstehen gab, dass Mageli die Frauen bei einem interessanten Gespräch unterbrochen hatte. Nervös strich sie die Haare hinters Ohr und zog sie schnell wieder in ihr Gesicht. Wie sollte sie am besten erklären, was sie wollte?
»Ich suche jemanden«, sagte sie zögernd.
Die junge Schwester, auf deren Namensschild ihr Vorname – Svenja – stand, zog fragend die Augenbrauen in die Höhe, sagte aber
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