Elfenblut
auszumachen«, sagte sie.
»Was?«
Sie war sicher, dass er ganz genau wusste, was sie meinte. »Die Möglichkeit, dass ich es doch sein könnte.«
»Die wirkliche Gaylen?«
Pia nickte. »Nicht dass ich behaupten will, ich wäre es …Aber ich habe das Gefühl, dass du nicht gerade vor Ehrfurcht auf die Knie sinken würdest, sollte sich herausstellen, dass ich es tatsächlich bin.«
»Möchtet Ihr das denn, Erhabene?«, fragte Lion. Er gab sich nicht einmal mehr Mühe, anders als spöttisch zu klingen.
»Nein«, antwortete Pia. Im Gegenteil. Es tat gut, zur Abwechslung einmal auf einen Menschen zu treffen, der nicht vor Ehrfurcht erstarrte, wenn er ihren Namen hörte.
Oder versuchte sie umzubringen.
»Ich wundere mich nur ein bisschen, das ist alles. Immerhin halten die meisten hier diese Gaylen für so etwas wie die wiedergeborene Jungfrau Maria. Dich scheint das alles nicht sonderlich zu beeindrucken.«
»Ja, das ist wohl so«, antwortete Lion nach kurzem Zögern. »Vielleicht ist die Legende von Gaylen und Eirann wahr, vielleicht auch nicht. Es interessiert mich nicht. Dieses Land leidet seit einem Jahrtausend unter der Tyrannei Apulos, und es wird Zeit, dass die Menschen ihre Freiheit zurückbekommen. Wenn es Gaylen gibt und wenn sie uns hilft, dieses Ziel zu erreichen, so will ich alles in meiner Macht Stehende tun, um sie dabei zu unterstützen.«
»Und dabei wäre es dir gleich, ob sie nun die echte Gaylen ist oder nicht. Was zählt, ist, dass die Menschen an sie glauben, nicht wahr?«
Ter Lion antwortete genau so, wie sie es erwartet hatte: gar nicht. Allenfalls mit einem angedeuteten Lächeln, von dem sie nicht einmal sicher war, ob sie es sich nur einbildete.
Erst nach einiger Zeit sagte er: »Macht Euch keine Sorgen. Es spielt keine Rolle, wofür ich Euch halte oder was Ihr seid oder nicht. Mein Auftrag lautet, Euch zu beschützen, und das werde ich tun.«
»Ich weiß«, sagte Pia. Und auch das war ernst gemeint.
Eine geraume Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Es war längst so dunkel geworden, dass selbst der Ochsenkarren kaum einen halben Steinwurf vor ihnen nicht mehr als einer von zahllosen Schatten war, der sich allenfalls von den anderen unterschied, weil er sich dann und wann bewegte und in fast regelmäßigen Abständen ein mühsames Ächzen und Knarren hören ließ. Zwei noch substanzlosere Schemen bewegten sich daneben – Alica und Nani, vermutete sie, konnte sich aber nicht einmal dessen vollkommen sicher sein –, und als wäre das alles noch nicht schlimm genug, schien es mit jedem Schritt kälter zu werden, den sie sich von der Stadt entfernten. Die Nacht war sternenklar, doch obwohl es nur noch zwei Tage bis Vollmond waren, war es sehr viel dunkler, als es sein sollte. Dennoch glaubte Pia die unendliche Weite, die sie umgab, geradezu körperlich spüren zu können.
Sie fühlte sich … fremd. Abgesehen von WeißWald selbst und seinem kuscheligen Vorgarten aus menschenfressenden Bäumen kannte sie diese Welt nicht. Nichts von dem, was sie darüber gehört hatte, musste wahr sein, aber immerhin begriff sie beinahe mit jedem Schritt und trotz der nahezu vollkommenen Dunkelheit mehr und mehr, wie groß die Unterschiede zu der Welt waren, aus der Alica und sie kamen. Irgendwie hatte sie tief in sich einfach vorausgesetzt, dass WeißWald und seine Menschen und überhaupt dieses ganze Land so etwas wie ein magisches Spiegelbild der Wirklichkeit sein mussten, doch wenn das stimmte, dann hatte der Spiegel ein paar gehörige Risse. Rio de Janeiro war eine Millionenstadt, in der das Leben vielleicht auch nicht immer perfekt war, aber pulsierte wie an kaum einem anderen Ort auf der Welt, und WeißWald ein Kaff mit bestenfalls ein paar tausend Einwohnern, von denen wahrscheinlich kaum eine Handvoll tatsächlich wussten, was das Wort Leben wirklich bedeutete. Wo die vor lebendigem Grün nur so berstenden Felder und Urwälder Brasiliens sein sollten, da erstreckte sich hier eine Winterlandschaft, die seit einem Jahrtausend auf den nächsten Frühling wartete, und die freundliche Landbevölkerung schien zum allergrößten Teil aus kaum kniehohen Zwergen zu bestehen, von denen die eine Hälfte ihr am liebsten die Füße küssen würde und die andere vermutlich angestrengt darüber nachdachte, wie sie sie ihr abschneiden konnte – am besten irgendwo dicht unterhalb ihres Kinns. Und der einzige Mensch in diesem wahr gewordenen Albtraum, den sie kannte, war gar nicht der, für den
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