Elfenblut
ihr gefolgt, und als Pia sich zu ihr umwandte, glaubte sie für den Bruchteil einer Sekunde, eine Bewegung zu sehen, nicht hinter oder über oder neben ihr, sondern irgendwie … überall und zugleich nirgends.
»Großer Gott, was ist denn hier passiert?«, ächzte Alica. Sie starrte den Toten an, und Pia konnte das blanke Entsetzen sehr gut nachvollziehen, das sie in ihren weit aufgerissenen Augen las. Es war dasselbe Gefühl, das auch sie empfand. Der Mann war nicht einfach nur tot. Er sah aus wie das Opfer eines schrecklich schiefgegangenen Bondage-Experiments.
»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Aber ich möchte eigentlich nicht hierbleiben und es herausfinden.« Wie hatte Brasil diesen Ort genannt? Schlingwald? »Du?«
Sie bekam keine Antwort. Alica war einfach zur Salzsäule erstarrt und blickte aus aufgerissenen Augen an ihr vorbei. Mit klopfendem Herzen drehte sich Pia herum.
Es gab tatsächlich zwei Verfolger. Der eine lag hinter ihr, der andere war der Neandertaler, dem sie ins Bein geschossen hatte, aber das war im Moment wahrscheinlich sein geringstes Problem.
Er stand keine fünf Meter von ihnen entfernt, das rechte Bein noch wie zu einem Schritt erhoben, mit ausgebreiteten Armen und eher erstauntem als wirklich entsetztem Gesichtsausdruck, obwohl er allen Grund dazu gehabt hätte. Die Äste hatten ihn nicht eingewickelt und zu Tode gequetscht wie Brasils glücklosen Gehilfen, sondern sich zu etwas zusammengefügt, das schon fast unheimliche Ähnlichkeit mit einem riesigen Spinnennetz hatte. Der Mann hing mit ausgestreckten Armen im Zentrum des grässlichen Gebildes, und seine Glieder, sein Körper, sein Hals und selbst sein Gesicht waren von Dutzenden spitzen Ästen durchbohrt worden.
»Hast du vielleicht etwas dagegen, wenn wir verschwinden?«, fragte Alica mit bebender Stimme.
Statt zu antworten, ergriff Pia ihre Hand und floh regelrecht mit ihr aus dem Wald. Es waren nur wenige Schritte, aber sie waren durch und durch entsetzlich, und das Gespenstischste, das sie bis zu diesem Moment überhaupt erlebt hatte. Plötzlich war es rings um sie herum nicht mehr still. Überall raschelte und knisterte es, und da waren schattenhafte Bewegungen, wie unzählige Knochenfinger, die nach ihnen zu greifen versuchten, ihnen den Weg verwehrten und gefährliche Fallstricke und Hindernisse bildeten, aber jedes Mal im letzten Moment wieder zurückschnellten. Keine der unheimlichen Schlingen und Schemen berührte sie auch nur.
Trotzdem stürmten sie nicht nur aus dem Wald, sondern noch ein gutes Stück weiter, bevor sie es endlich wagten, anzuhalten und zurückzusehen.
Hinter ihnen rührte sich nichts. Der Waldrand lag so still und regungslos da wie eh und je.
Aber das war vielleicht das Unheimlichste überhaupt.
»Was war das, Pia?«, krächzte Alica. Sie hatte ihre Zigarette fallen gelassen und warf einen fast sehnsüchtigen Blick darauf, wagte es aber nicht, auch nur die zwei Schritte in Richtung Waldrand zurückzugehen, um sie aufzuheben. Ihr Gesicht war fast genauso weiß wie der Schnee, auf dem sie standen.
»Das will ich gar nicht wissen«, antwortete Pia ehrlich.
»Ich glaube, ich auch nicht«, sagte Alica nach einer Weile. Nach einer weiteren – sehr viel längeren – Weile fügte sie hinzu: »Und wohin gehen wir jetzt?«
»Ich glaube, ich überlasse meinen Schuhen nun die Entscheidung«, erwiderte Pia. Alica starrte sie nicht nur an, als zweifle sie in diesem Moment an ihrem Verstand, sondern tat es ganz bestimmt auch.
Aber wenigstens Brack lächelte, als sie eine halbe Stunde später und bis auf die Knochen durchgefroren wieder in den Weißen Eber traten.
»Das hat jetzt aber länger gedauert, als ich erwartet hätte«, sagte er.
X
E ine weitere Stunde danach kehrte das Leben, kribbelnd und alles andere als angenehm, ganz allmählich wieder in Pias Finger- und Zehenspitzen zurück. Alica und sie saßen am Kamin, in dem Brack eigens für sie ein prasselndes Feuer entfacht hatte, das möglicherweise zum ersten Mal seit einem Jahrhundert die Kälte wirklich aus diesem Gemäuer vertrieb, zugleich aber auch die Luft hier drinnen derart verpestete, dass sie immer öfter husten mussten. Gesprochen hatten sie in der ganzen Zeit nicht besonders viel; am Anfang, weil ihre Gesichter und Lippen einfach zu steif gefroren waren, um ein vernünftiges Wort hervorzubringen; später, weil Pia einfach nicht nach Reden war. Alica anscheinend auch nicht, denn sie beschränkte sich darauf, Brack und sie
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