Elfenkuss
»Kannst du rüberkommen?«
Als es klingelte, rannte Laurel zur Haustür, um David reinzulassen. »Es tut mir so leid, dass ich dich angerufen habe. Ich wusste nicht, wie spät es war«, sagte sie.
»Kein Problem«, erwiderte David und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Es ist erst zehn, und meine Mom hat mir erlaubt, nach Hause zu kommen, wann ich will. Das ist schließlich ein Notfall. Was kann ich für dich tun?«
Unsicher antwortete sie: »Meine Mom ist weg und … ich will nicht allein sein.«
David legte ihr die Arme um die Schultern und sie
schmiegte sich an ihn. Er hielt sie einige Minuten im Eingangsbereich, während sie sich an seine Brust kuschelte und ihn trostsuchend umklammerte. Er fühlte sich so warm und stark an, dass sie ihn festhielt, bis ihr die Arme wehtaten. In dieser kurzen Zeit fühlte es sich an, als könnte doch noch alles gut werden.
Schließlich ließ sie ihn los. Sie kam sich komisch vor, nachdem David sie so lange im Arm gehalten hatte. Aber er lächelte nur, ging zum Sofa und griff nach der Gitarre. »Wer spielt denn bei euch?«, fragte er und klimperte vor sich hin. »Dein Dad?«
»Nein. Äh … also ich spiele. Ich habe aber nie Gitarrenunterricht gehabt. Das meiste habe ich mir selbst beigebracht.«
»Wieso hast du mir nie davon erzählt?«
Laurel schüttelte den Kopf. »Weil ich es wirklich nicht besonders gut kann.«
»Wie lange spielst du denn schon?«
»Ungefähr drei Jahre.« Sie nahm ihm die Gitarre ab und legte sie auf ein Knie. »Ich habe sie auf dem Speicher gefunden. Früher gehörte sie meiner Mutter. Sie hat mir die Grundlagen beigebracht und jetzt spiele ich einfach nach Gehör.«
»Würdest du mir was vorspielen?«
»Oh nein.« Laurel nahm die Finger von den Saiten.
»Bitte. Das würde dir bestimmt guttun.«
»Wie kommst du darauf?«
Er zuckte die Schultern. »Du hältst sie so locker, als hättest du sie sehr gern.«
Laurel strich über den Gitarrenhals. »Das stimmt. Sie ist schon alt. Ich mag alte Sachen. Sie haben … eine Geschichte, erzählen Geschichten.«
»Dann spiel.« David lehnte sich zurück und verschränkte die Hände am Hinterkopf.
Laurel wollte erst nicht, fing dann aber leise an, die Saiten zu zupfen und das Instrument zu stimmen. Allmählich ging sie von einzelnen Akkorden zu John Lennons Song »Imagine« über. Nach der ersten Strophe sang Laurel ganz langsam mit, sehr langsam. Der Song passte zu diesem Abend. Beim letzten Akkord seufzte sie auf.
»Wow«, sagte David. »Das war total schön.«
Mit einem Schulterzucken legte Laurel die Gitarre in ihren Koffer zurück.
»Dass du singst, hast du mir auch vorenthalten.« David hielt kurz inne. »So etwas wie eben habe ich noch nie gehört. Das war nicht wie bei einem Popstar, es war einfach nur schön und beruhigend.« Er nahm ihre Hand. »Geht es dir besser?«
Sie lächelte. »Ja, danke.«
David räusperte sich und drückte fest ihre Hand. »Und was jetzt?«
Laurel schaute sich um. Viel Unterhaltsames gab es nicht. »Hast du Lust, einen Film zu gucken?«
»Warum nicht?«
Laurel entschied sich für ein altes Musical, in dem keiner krank war oder sterben musste.
»Singin’ in the Rain?« David rümpfte die Nase.
»Wieso nicht? Ist doch lustig.«
»Deine Entscheidung.«
Nach einer Viertelstunde lachte auch David und Laurel schaute ihm dabei zu – sein Umriss wurde vom Bildschirm angestrahlt. Er lächelte die ganze Zeit vor sich hin und warf ab und zu lachend den Kopf zurück. Wenn sie mit ihm zusammen war, fiel es ihr leicht, alles andere zu vergessen. Ohne darüber nachzudenken, rutschte Laurel näher an ihn heran. Beinahe automatisch hob David den Arm und legte ihn ihr um die Schultern. Laurel schmiegte sich an seine Rippen und legte den Kopf an seine Brust. Er zog sie enger an sich und senkte den Kopf, bis eine Wange auf ihrem Scheitel lag.
»Danke, dass du gekommen bist«, flüsterte Laurel.
»Jederzeit«, sagte David und strich mit den Lippen über ihr Haar.
Als das Klangspiel in der Buchhandlung läutete, schaute Laurel auf. Sie wusste nicht genau, ob sie es schaffen würde, noch einen Kunden anzulächeln. Doch als sie David in die Augen sah, huschte ein Lächeln der Erleichterung über ihr Gesicht. »Hallo«, sagte sie und setzte den Bücherstapel, den sie gerade einsortierte, auf dem Tisch neben dem Regal ab.
»Hey«, sagte David leise. »Wie geht’s denn so?«
Laurel zwang sich, weiterzulächeln. »Ich lebe noch. So gerade.« Zögernd fragte
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