Elfenlicht
Meister Gengalos beantworten.«
Schweigend führte sie Chiron durch weite Hallen und Flure. Endlose Regale zogen an ihnen vorüber. Die schiere Anzahl der Bücher ließ Ollowain verzweifeln. Ohne Hilfe könnte man hier bis ans Ende seiner Tage suchen – selbst als Elf.« Auf dem ganzen Weg begegneten sie niemandem. Gab es hier denn keine anderen Besucher außer ihnen? Ollowain machte sich Sorgen wegen der Lutin. Hoffentlich war ihr klar, dass sie auf Hilfe angewiesen waren.
Die Bibliothek war ein Ort der Finsternis. Nur wenige Laternen beleuchteten die weiten Flure. Die Düsternis ließ die Hallen noch größer und abweisender erscheinen. Ab und zu waren Barinsteine in die Decken eingelassen, die warmes, honigfarbenes Licht verstrahlten. Doch sie waren viel zu selten. Mit der Zeit kam der Elf zu der Überzeugung, dass hier an allem Mangel herrschte außer an Büchern.
Sie mochten eine halbe Stunde oder länger gegangen sein, als Chiron sie in einen Saal mit bunt bemalter Decke führte. Es war der erste Ort, den sie betraten, an dem das Licht über die Schatten siegte. Eine lange Reihe von Lesepulten stand im Mittelgang zwischen wuchtigen Regalen. Dort saß eine einzelne, schlanke Gestalt in einer sandfarbenen Kutte. Sie hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und war ganz darin versunken, welke Blätter zu betrachten, die vor ihr auf dem Lesepult lagen.
Chiron gab ihnen ein Zeichen, stehen zu bleiben, und ging dann das letzte Stück zum Pult. Lange Zeit blickte er auf die vermummte Gestalt hinab, bis er sich schließlich leise räusperte. »Meister Gengalos, verzeiht, wenn ich störe. Es sind Gäste eingetroffen. Sie sagen, Königin Emerelle habe sie geschickt. Einer von ihnen ist der berühmte Schwertmeister Ollowain.«
Die Gestalt am Pult hob das Haupt, doch ihr Gesicht blieb im Schatten der Kapuze verborgen. »So, so. Gesandte der Königin.« Seine Stimme klang warm und freundlich. »Und ich nehme an, sie haben es eilig.«
Chiron lächelte. »Ihr sagt es, Meister.«
»Ollowain, Schwertmeister von Albenmark, und auch Ihr, junge Lutin, tretet vor, damit ich über Eure Aufgaben entscheiden kann«, sagte der Kuttenträger feierlich.
Ollowain zog das Siegel der Königin aus seiner Börse und legte es vor dem Hüter des Wissens auf den Tisch. »Bei allem Respekt, Meister Gengalos, aber wir können uns nicht irgendwelchen aufwändigen Ritualen und Prüfungen unterwerfen. Wir sind im Auftrag der Königin hier, und unsere Mission gebietet uns größte Eile. Seht Emerelles Siegel als Beweis für die Wahrheit meiner Worte. Ich bitte Euch darum, uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen.«
Gengalos strich mit schlanken, weißen Fingern über eines der vor ihm liegenden Dokumente. Jetzt erst bemerkte Ollowain, dass alle Blätter auf dem Tisch mit Mustern aus zierlichen Buchstaben bedeckt waren. Die Schriftzeichen waren nicht in Reihen angeordnet. Sie schienen sich vielmehr an den Adern der Blätter auszurichten.
»Bevor ich auf deine Forderung antworte, sollst du wissen, dass ich kein nachtragender Mann bin, Ollowain. Du ahnst wahrscheinlich nicht, wie oft ich an den Fürstenhöfen Albenmarks war und eine ganz ähnliche Bitte vorgetragen habe wie du: die Bitte um Unterstützung. Diese Bibliothek droht zu zerfallen. Du hast Kleos ja gesehen. Einst war er ein Weiser, nun ist er nur noch ein Würmerjäger. Bücher brauchen Pflege, Ollowain. Und unsere Bibliothek wächst. Ständig kommen neue Schriften hinzu, ohne dass wir die Möglichkeit hätten, unsere Räumlichkeiten zu erweitern. Gewiss, man mag meinen, mehr als tausend Lesesäle – die Bücherlager und kleineren Leseräume gar nicht mitgerechnet – seien genug. Doch unser Wissen wächst mit jedem Tag. Wir sind wie ein Zierbaum, der in ein zu enges Gefäß gepflanzt wurde. Unsere Wurzeln bilden verschlungene Knoten. Wir werden an uns ersticken, wenn wir keine Hilfe erhalten, oder aber wir müssen damit beginnen, Wissen zu vernichten. Müssen Dinge für unwichtig erklären und sie fortwerfen.«
Er deutete auf das welke Blatt vor ihm. »Dies sind Gedichte von Blütenfeen, niedergeschrieben auf Eichenblättern. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich nun schon mit dieser Lyrik, und doch verzaubert sie mich jeden Tag aufs Neue. Schriftzeichen und Blattadern stehen in vieldeutiger Harmonie zueinander. Blütenfeen gelten als sprunghaft und geschwätzig, doch wem sich ihre Gedichte erschließen, der begreift, dass sie vielleicht die zartesten
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