Elfenmeer: Roman (German Edition)
ihre Familie konnte sie halten. Als ihr kleiner Bruder in Averons Lager zur Welt kam, achteten ihre Eltern immer weniger auf sie, und Nayla versuchte mehrmals, davonzulaufen. Einmal sperrten die Elfen sie in einen Käfig am Strand und warteten auf die Flut. Das Kind zeigte keine Angst, obwohl das Wasser bis knapp unter den Käfigrand stieg. Doch Nayla verbrachte die ganze Nacht darin, den Kopf hochgestreckt und zwischen den Gitterstäben hindurchatmend. Sie flehte kein einziges Mal um Gnade.«
Liadan knetete das Kleid in ihren Händen. Sie wusste, dass die Zustände in den Menschenlagern nicht die besten waren, und nicht nur einmal hatte sie Fürst Averon darauf angesprochen. Der hatte stets Besserung gelobt, und mehr konnte sie nicht tun. Trotzdem tat es ihr weh zu hören, wie grausam es dort tatsächlich zuging. Bei ihren Minen hatte sie befohlen, den menschlichen Arbeitern den bestmöglichen Komfort zubieten, aber die Sklaven in Averons Hand hatten es sehr viel schlechter. Wenn sie nur einen Weg finden würde …
»Kannst du Haare flechten?«
Liadan drehte den Kopf und erblickte ein kleines Mädchen mit einer Stoffpuppe in der Hand. Strähnen aus Wolle standen wirr vom Kopf des Spielzeugs ab und brachten Liadan zum Schmunzeln. Unwillkürlich fühlte sie sich an ihre eigene Kindheit erinnert, als ihre Mutter noch am Leben gewesen war und sie selbst mit Puppen gespielt hatte. Es war eine so kurze Zeit gewesen und doch so lieblich und frei.
»Ich bin die Beste im Flechten«, erklärte sie und nahm die Puppe entgegen. Sie ließ sich inmitten der Kinder auf die Knie nieder und begann, das wollene Haar zu entwirren. Vielleicht, wenn sie sich ein bisschen mehr mit den Menschen unterhielt, fand sie etwas über die Piraten heraus, das ihr nützlich sein konnte – eine Schwäche. Vielleicht fand sie einen Weg, ihr von Sehnsucht erfülltes Herz zu beruhigen, das die friedvollen Momente inmitten dieser einfachen Geschöpfe genoss.
*
Eine Kuppel aus funkelndem und durchschimmerndem Kristall wölbte sich über ihr und zeigte das blaue Licht des Meeres, das von der anderen Seite dagegendrückte. Der Palast lag hinter ihr, und Liadan befand sich in einer Art Garten, in dem verschiedenste Wasserpflanzen in kleinen Seen und Teichen heranwuchsen. Es war dunkel, das Licht des Kristalls reichte gerade mal aus, um Konturen zu erkennen, und spiegelte sich auf der Oberfläche eines Sees, in den ein Steg hineinführte.
Liadan war froh, hier niemanden anzutreffen. Nachdem sie mit der Menschenfrau und ihren Kindern am gemeinsamen Mahl teilgenommen hatte, suchte sie die Einsamkeit, um ihreverworrenen Gedanken zu ordnen. Es hatte nicht lange gedauert, bis die Menschen herausgefunden hatten, wer sie wirklich war. Die Mannschaften der Piratenschiffe hatten immer wieder in ihre Richtung gezeigt, und so hatte sich die Neuigkeit im Flüsterton wie ein Lauffeuer verbreitet. Liadan störte sich nicht daran, denn so trat immerhin niemand mehr an sie heran, und sie hatte ihre Ruhe. Und Ruhe war das, was sie jetzt dringend brauchte, denn immer noch sah sie die kleinen Geschöpfe vor sich, die sie mit großen Augen anstrahlten und aus ganzem Herzen lachten. Allein der Gedanke, dass diese Kinder Leid erfuhren, sandte Wellen der Qual durch ihren Körper. Sie verstand, weshalb der Korallenfürst annahm, sie mit einem Besuch hier umstimmen zu können. Es war angenehm gewesen, sich eine Weile unerkannt zwischen den Menschen zu bewegen, auch wenn sie nichts über die Piraten erfahren hatte, was sie nutzen konnte. Die Menschen verehrten die Piraten, sahen sie als Helden und Freiheitskämpfer, und Liadan konnte deren Gefühle nachvollziehen. Doch der Anblick Unschuldiger änderte nichts an den Tatsachen. Er machte es nur noch schwerer, konsequent zu bleiben. Elfen hatten auch Kinder, wenn auch seltener. Es waren die Elfen, die sie schützen musste, wollte sie verhindern, dass diese sich in magischen Kriegen zur Gänze vernichteten. Kinderlachen konnte sie nicht von ihrem Entschluss abbringen.
Einen Fuß vor den anderen setzend schritt Liadan auf den See zu und betrat schließlich den steinernen Steg, der schmal war und zu beiden Seiten abgerundet ins Wasser abfiel. Sie dachte an Ardemir und daran, was er unternahm, um die Minen zu schützen. Auch die Ritter ihrer Befreiungsflotte kamen ihr in den Sinn. Wie viele mochten gestorben sein? Welche von ihnen? Ritter, die Liadan gut kannte? Wer war es gewesen, der mit seiner Magie gegen den Korallenfürsten
Weitere Kostenlose Bücher