Elfenmeer: Roman (German Edition)
sprang vom Tischund drehte sich im Kreis. Sie brauchte etwas, um die Schiffsbohlen aufzubrechen. Lauschend hielt sie inne. Würden die Wachen bemerken, wenn sie ausbrach? Das Meer mochte gnädig sein, und wenn sie unbemerkt blieb, gelang es ihr womöglich, bis an die Küste zu schwimmen. Die war nicht allzu weit entfernt, schließlich war der Angriff unmittelbar vor der Insel mit dem Menschenlager erfolgt. Bestimmt beratschlagten die Kapitäne gerade, was zu tun wäre, und wähnten sie tatenlos in ihrem Gefängnis.
Liadan fuhr mit den Händen unter den Tisch und suchte nach versteckten Waffen, dann rannte sie zum Wandschrank und kramte zwischen Bechern und Krügen, bis sie tatsächlich ein Messer fand.
Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr ihr, doch sie nahm sich nicht die Zeit zum Verharren. Sofort eilte sie zurück, kletterte auf den Tisch und bearbeitete die Holzbretter rund um die Luke. Es war schwerer, als sie gedacht hatte, doch sie würde nicht aufgeben. Niemals würde sie sich kampflos ihrem Tod ergeben, auch wenn sie zum Korallenfürsten gesagt hatte, er solle sie doch töten. Dies hatte sie nur getan, um zu verstehen, was er mit ihr vorhatte. Ihre qualvolle Gefangenschaft hatte sie längst an ihre Grenzen getrieben, zudem verstand sie den Anführer der Piraten nicht. Sie wollte hinter seine Maske blicken und verstehen, weshalb er sie bisher am Leben gelassen hatte. Wenn sie in seinen Augen eine menschenversklavende Königin war, wieso machte er sich dann die Mühe, sie zur Umkehr bewegen zu wollen? Nun, die Zeiten, in denen sie sich über die Gedankengänge eines Piraten den Kopf zerbrochen hatte, waren jetzt vorbei.
Ein erstes Brett gab knarzend nach, und als Liadan mit beiden Händen daran zerrte und gleichzeitig versuchte, ihr Gleichgewicht auf dem Tisch zu halten, gelang es ihr auch, esherauszureißen. Sofort kam das nächste Brett an die Reihe. Bald hätte sie es geschafft, doch plötzlich hörte sie, wie der Riegel an der Tür sich bewegte.
Mit angehaltenem Atem fuhr sie herum und blickte in das Gesicht eines Elfen aus der Mannschaft. Es war nicht derselbe, der sie damals misshandelt hatte, denn der war vom Korallenfürsten gehängt worden – eine weitere unerklärliche Tat, auch wenn er ihr diese damit begründet hatte, dass auf seinem Schiff Befehle befolgt wurden und er seinen Leuten vertrauen musste.
Der Elf an der Tür trat ein. »Majestät, ich soll Euch an Deck bringen, bis die Kapitäne entschieden haben …« Er blickte an ihr vorbei zur vergrößerten Luke und riss die Augen auf. »Was …« Mit schnellen Schritten kam er auf sie zu und starrte auf das Loch.
Liadan stieß das Messer nach vorn. Von ihrer erhöhten Position aus rammte sie den Stahl mit einem leisen Kampfschrei in seinen Hals, und es schien ihr, als könne sie den Herzschlag des Sterbenden durch den Griff in ihrer Hand spüren. Der Elf erstarrte genauso wie sie. Aus großen Augen sah er zu ihr herauf. Pulsierend strömte das Blut aus seinem Hals, und Liadan glitt das Messer aus der Hand. Ein Wimmern drang aus ihrer Kehle, und ihr ganzer Körper begann zu zittern. Sie konnte ihren Blick nicht abwenden, sah das schwindende Leuchten in den kristallklaren Augen des Elfen und hörte seine verzweifelten Versuche zu atmen. Angst und Verzweiflung standen in seinem Blick, und Liadan vernahm einen Schmerz in ihrer Brust, den sie nie zuvor verspürt hatte. Als steche jemand mit einer glühenden Nadel in ihr Herz, immer und immer wieder.
Auch sie japste nach Luft und hatte das Gefühl, selbst um ihr Leben zu kämpfen, sich an einem dünnen Faden festklammern zu müssen, um nicht zerstört zu werden. Der Pirat brach zusammen,und Liadan sank ebenfalls auf dem Tisch nieder. Keuchend sah sie auf den toten Elfen hinab und hörte das Blut in ihren Ohren rauschen, lauter noch als die Wellen, die gegen das Schiff schlugen. Sie hatte ihn getötet. Nie zuvor hatte sie jemandem das Leben genommen, und jetzt hatte sie mit eigenen Händen diese Tat begangen.
Der Pirat war ihr Feind, und sie musste sich befreien, und doch fühlte sich all dies hier falsch an. Wenn sie doch nur zurück in den Korallenpalast fliehen könnte, wo sie den ganzen Tag kleinen Kindern Geschichten erzählen würde und durch einen Ozean vom Rest der Welt abgeschottet wäre. Doch sie war die Königin. Nichts anderes zählte.
Um Atem ringend sprang sie vom Tisch, kletterte über den toten Elfen und rannte zur Tür. Egal, was sie über den Tod des Mannes denken mochte,
Weitere Kostenlose Bücher