Elfenmeer: Roman (German Edition)
fielen sie tatsächlich nicht auf, denn die meisten Leute waren so gekleidet – auf Anonymität bedacht und zweifelsohne Waffen vor einem möglichen Feind verbergend. Und trotzdem fühlte Marinel sich an Esteraz’ Seite sicher. Dies war seine Stadt, und er war bestimmt nicht zum ersten Mal hier. Zudem beschäftigten sie seine Worte über ihren Kampfgeist. War ihr die Hingabe an das Rittertum so leicht anzusehen, oder war er ihr tatsächlich so ähnlich? Sie unterbrach ihre Überlegungen, denn Esteraz sprang über eine kniehohe Mauer gut zehn Fuß weit hinab und war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. »Folgt mir«, hörte sie ihn dumpf, und als Marinel ebenfalls die geschäftige Straße verließ,erkannte sie, dass Esteraz darunter verschwunden war. Morsche und wenig vertrauenerweckend aussehende Holzsäulen stützten den Weg über ihnen, der nach zwei Schritten in natürliches Gelände überging. Das Meer rollte nahe an sie heran, was Marinel unweigerlich an die schreckenerregende Welle des Korallenfürsten erinnerte. Ob sich hier wohl Meerjungfrauen tummelten? Vermutlich nicht, denn Esteraz hatte ihr schon bei der Besichtigung der Schiffe erklärt, dass es Netze gab, die die Meerjungfrauen vom Hafen fernhielten. Zu groß war die Gefahr, dass Spione ihre Pläne an den Korallenfürsten weitergaben – ein Elf, der das Meer zu beherrschen schien und gegen den sie bald antreten sollte. Doch für bange Gefühle war keine Zeit. Marinel erkannte in den Schatten zwischen den Säulen zwei Gestalten, die sich schleichend wie Katzen näherten. Ihre Bewegungen waren von Vorsicht und Zurückhaltung geprägt, und als Esteraz und Marinel auf sie zugingen, hielten sie inne. Niemand von der Straße konnte sie sehen, denn sie waren unter ihr verborgen, und einzig der Gestank der herabgeworfenen Abfälle erinnerte noch an das Treiben im Hafen über ihnen.
»Hm«, machte Esteraz an ihrer Seite, und dieser nachdenkliche Laut erweckte ein unbehagliches Gefühl in ihr. Etwas schien nicht in Ordnung zu sein.
»Was ist es?«, flüsterte sie, während sie sich den Fremden langsam näherten und Esteraz’ Hand zu seinem Schwert glitt. Marinel tat es ihm gleich.
»Sie sind zu zweit«, antwortete er ihr ebenso leise und blickte starr geradeaus. »Ich kann ihre Gesichter nicht erkennen und weiß nicht, ob wirklich unser … Freund unter ihnen ist. Seid wachsam.«
Einen Schritt vor den anderen setzend bewegten sie sich durch den Sand, und die Fremden taten es ihnen gleich. DerLinke von ihnen schien besonders angespannt, doch der Rechte ging schwungvoll und zeigte keine Zurückhaltung. Dann hob er plötzlich die Hand und winkte.
»Wir scheinen uns verlaufen zu haben«, rief er lachend und wies zur Straße hoch. »Sagt, gibt es hier irgendwo eine Treppe?«
Die beiden kamen vor ihnen zum Stehen, doch Marinel konnte in den Schatten unter der Straße kaum etwas von ihren Gesichtern erkennen, zudem trugen sie genauso wie Esteraz und sie Kapuzen. Ihre Umhänge waren ausgeblichen, und ihre Stiefel, die zum Teil im Sand versanken, wirkten ebenfalls, als seien sie schon jahrhundertealt. So, wie die Haut der Rinieler Elfen Risse vom salzigen Wind und der Sonne zu bekommen schien, erging es wohl auch der Kleidung der Fremden. Und wenn sie tatsächlich Piraten waren, so verbrachten sie wohl nicht unerheblich viel Zeit auf dem Meer.
»Drüben bei den Palastdocks«, meinte Esteraz ungewohnt gedehnt, ohne den Blick von seinem Gegenüber abzuwenden. »Aber auch auf der anderen Seite und beim Fischerhafen führen ein paar Stufen hoch – die sind im Dickicht der Böschung verborgen.«
Der Sprecher verneigte sich galant. »Besten Dank. Dann werden wir uns gleich …« Er richtete sich wieder auf, und mit dieser Bewegung blitzte plötzlich Metall auf. Ein Schnalzen war zu hören, als der Fremde seinen Gürtel unter dem Umhang hervorzog und ihn wie eine Peitsche schwang. Im nächsten Moment schlang sich der Riemen um den Hals des zweiten Fremden. Ein ersticktes Luftholen war zu hören, das in dem gurgelnden Versuch zu schreien unterging. Marinel fuhr zurück und wäre beinahe hingefallen, so schnell stolperte sie weg. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie auf den Elfen, dessen Kapuze vom Kopf gerutscht war und in dessen Halssich die Zacken scharfer Metallsterne bohrten. Die Sterne hafteten auf dem Gürtel und hatten sich genauso wie das Leder um den Hals geschlungen. Die Augen des Elfen schienen aus den Höhlen zu quellen. Er versuchte, den Kopf zu
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