Elfennacht 01. Die siebte Tochter
mich nicht wirklich wie sie, sondern noch immer wie Anita Palmer.« Stirnrunzelnd wiederholte sie den Namen laut. »Anita Palmer, Eddison Terrace 19, London, Großbritannien, Europa, Erde, Sonnensystem, Milchstraße, Universum.« Sie musste lächeln, als ihr einfiel, dass sie kurz nach einem Planetariumsbesuch an ihrem achten Geburtstag ihre Adresse genau so aufgeschrieben hatte.
Und jetzt? Prinzessin Tania, Königspalast, Elfenreich. Was hatte Prinzessin Tania an ihrem achten Geburtstag gemacht? Sie hatte keine Ahnung.
Doch vielleicht würde sie es irgendwann in Erfahrung bringen.
Sie zog das Buch unter ihrem Kissen hervor, setzte sich im Schneidersitz aufs Bett und legte sich das Buch auf den Schoß.
Sie überflog die ersten Jahre auf der Suche nach den interessanten Stellen in den schier endlosen Details ihrer frühen Kindheit.
Ihre ersten Lebensjahre hatte sie ausschließlich in der Palastanlage verbracht, mit ihren Schwestern in einem Kinderzimmer voll herrlicher Spielsachen gespielt und später Lesen und Schreiben gelernt. Als sie älter war, machte sie mit ihrer Mutte r – Königin Titani a – lange Spaziergänge. Sie lernte auch reiten, Flöte spielen, tanzen, mit Pfeil und Bogen zu schießen und mit einem Schwert zu kämpfe n – all die Dinge, die eine Prinzessin können sollte.
Im Sommer reiste die königliche Familie stets in den Veraglad-Palast, ein Schloss, das auf einer hohen Klippe direkt über dem Meer erbaut war. Tania las über das Einhorn Parzival, das ihr Haustier gewesen war, und von den glücklichen Tagen und Wochen, in denen sie mit ihm die Strände durchkämmt hatte. Jeden Abend war sie mit lauter Ketten aus den Gehäusen von Strandschnecken um den Hals in den Palast zurückgekehrt. Sie erfuhr von Picknicks am Strand mit Lagerfeuer, vom Schwimmen mit Delfinen, vom Fangen spielen mit ihren Schwestern um die Felsen und Gezeitenbecken herum, die im Schatten der weißen Klippen lagen.
Sie schien eine wunderschöne Kindheit gehabt zu haben. Tania hatte einen Kloß im Hals, als sie die schweren Seiten mit den verlorenen Erinnerungen umblätterte.
Mit zehn hatte sie ihren Vater auf der königlichen Galeone auf eine Seereise zu den entlegenen Inseln des Reichs begleite t – nach Chalcedony und Urm und zu den felsigen Landspitzen von Highmost Voltar, wo die Seevögel in dichten Schwärmen unterwegs waren.
An ihrem zwölften Geburtstag fand im gesamten Palast das Fest zu ihrer Volljährigkeit statt. Es dauerte fünf ganze Tage und Nächte, an denen Maskenbälle und andere Feiern sowie Festessen abgehalten wurden. Es gab die verschiedensten Darbietungen und Vergnügungen, Musik und mitternächtliche Feuerwerke.
Tania schluckte und versuchte die Tränen zurückzuhalte n – es war so traurig, dass sie sich an nichts von alledem erinnern konnte. Sie hatte ja nicht ahnen können, wie gefährlich es sein würde, in jener Nacht vor fünfhundert Jahren ihre Gabe auszuprobieren. Sie hatte ja nicht wissen können, was geschehen würde.
Sie lehnte sich ans gepolsterte Kopfteil ihres Betts und schloss die Augen. Verzweifelt durchforstete sie ihr Gedächtnis nach irgendeinem klitzekleinen Hinweis darauf, dass sie die Dinge, die sie gerade gelesen hatte, tatsächlich erlebt hatte. Doch es war zwecklo s – sie erinnerte sich an nichts.
Sie konnte sich nicht mal entsinnen, Gefühle für Gabriel gehabt zu habe n – auch wenn sie überzeugt davon war, dass sie welche gehabt haben musste, trotz allem, was Sancha und Cordelia auf dem Ball gesagt hatten. Liebte sie Gabriel? Nachdenklich runzelte Tania die Stirn. Sie mochte ihn, es ging auch eine gewisse Anziehungskraft von ihm au s – aber Liebe? Nein, das nicht, zumindest noch nicht. Es würde sowieso eine ganze Zeit dauern, bevor sie sich wieder auf jemanden einlassen konnt e – nach dem, was Edric ihr angetan hatte.
Aber Gabriel hatte sie geliebt, dessen war sie sich sicher. Und er liebte sie immer noch.
Sie schlug die Augen auf und starrte vor sich hin.
»Ich muss Mum und Dad Bescheid geben, dass es mir gut geht«, sagte sie und klappte das Buch zu. »Danac h … na j a … dann sehen wir weiter.« Sie wusste, dass sie wieder in die Welt der Sterblichen gelangen konnte, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie es verhindern sollte, erneut gegen ihren Willen und ohne jede Vorwarnung zurückgeholt zu werden.
Sie brauchte dringend jemanden, der ihr zeigte, wie man zwischen den Welten hin- und herging, der ihr erklärte, wie sie ihre Fähigkeit gezielt
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