Elfenschwestern
jetzt?“
„Wir machen dich stark, du Tatzentier.“
„Ich finde, er ist schon stark“, sagte Grace leise und strich mit ihrem Handrücken vorsichtig über Graysons Wange.
„Das ist er allerdings“, bestätigte Gwyneth.
Grayson senkte ein bisschen verlegen den Kopf.
„Also dann“, murmelte Lily. Sie raffte ihr Seidenkleid bis über die Knie und stieg als Erste hinaus aufs Dach. Der frisch gefallene Schnee knirschte. Er war weich und locker unter ihren Sohlen, lag in neuer Dichte auf den Köpfen und Schultern der schweigend in der Nacht stehenden Steinfigurinen und klebte an den Seiten der schlanken Schornsteine, die rings herum in den klaren Sternenhimmel ragten.
Wenn ich mir heute nicht mindestens eine Lungenentzündung hole, weiß ich auch nicht, dachte Lily. Über die Schulter rief sie leise: „Bringt ein paar von den Decken mit hinaus.“ Nacheinander half sie ihrer Schwester, ihrem Bruder und ihren Tanten, durch die Luke zu klettern. Als alle auf dem Dach versammelt waren, schüttelte Lily den Kopf. Sie boten solch einen skurrilen Anblick: Rose und Grace lehnten in ihren weißen Roben an einem Kamin, die eine mit im Mondlicht glitzernden Juwelen an den Ohren, die andere mit einem toten Polarfuchs um den Hals; Gwyneth und Grayson standen in ihren schwarzen Anzügen im Schnee, Gwyneth streng und schön, Grayson ernst und blass. Roses Tüllrock raschelte, als sie neben ihrem Bruder in die Knie ging.
Graysons Zähne schlugen aufeinander.
Besorgt schlang Grace einen Arm um ihn. „Beeilt euch“, sagte sie zu Lily.
Und Lily wurde klar, dass tatsächlich sie es war, die hier das Kommando führen musste. Die Tanten würden helfen, sie anleiten, unterstützen, was auch immer. Aber sie, Tigerlily Fairchild, würde jetzt gleich ihren ersten Schutzzauber sprechen. Mehr als nicht funktionieren kann er ja nicht, redete sie sich Mut zu.
„Wir drei Fairchilds in die Mitte“, sagte sie zu ihren Geschwistern. „Ich fürchte, wir müssen uns in den Schnee setzen.“
Rose runzelte die Stirn. „Okay“, sagte sie aber, ließ sich in ihre bauschigen Röcke sinken wie in ein Meer aus Seifenschaum und zog Grayson neben sich. Lily kniete sich ihnen gegenüber hin. Mit erstaunlich sicheren Fingern knüpfte sie das Tuch auf, das Porter für sie getragen hatte. Streichhölzer und elegante weiße Kerzen rollten heraus, genau solche, wie sie unten im Gartensaal die Tische zierten.
„Weißt du, was du da tust?“, fragte Rose leise.
Lily warf ihr nur einen Blick zu.
Rose schluckte hörbar. „Na gut“, sagte sie. „Dann viel Glück.“
Grayson rutschte einmal unruhig hin und her. Doch als Lily ihn anlächelte, lächelte er zurück.
Während Lily vor ihre Schwester, ihren Bruder und sich selbst eine Kerze in den Schnee steckte, hüllte Grace Rose und Grayson je in eine Wolldecke. Sie löste ihre Pelzstola, trat hinter Lily und legte ihr den Fuchs um die Schultern. Kurz berührten ihre Finger Lilys Wange, dann richtete Grace sich wieder auf.
Lily riss ein Zündholz an. Hell flammte es auf. Lily schützte es mit einer Hand und hielt es nacheinander an die Dochte, bis alle drei Kerzen brannten.
„Das Salz“, sagte Lily heiser.
Gwyneth nickte. Sie griff in ihre Hosentaschen und holte silberne Tafelsalzstreuer hervor. Vorsichtig schraubte sie den ersten Deckel ab, kippte das Gefäß um und ließ feine, weiße Körner in Graces zusammengelegte Hände rieseln.
„Du im Uhrzeigersinn“, sagte Gwyneth zu ihrer Schwester. „Ich dagegen.“
Grace nickte.
Die beiden Frauen begannen, zwei Kreise um die drei Fairchilds zu beschreiben. Während sie durch den Schnee schritten, zogen sie eine Spur aus Salz hinter sich her.
„Tiger“, hauchte Grayson. Seine Augen waren riesengroß.
„So stört euch nichts und niemand“, erklärte Gwyneth. „Keine zufällig vorbeikommenden Waldgeister, keine Ärger suchenden Pixies, niemand.“
Grace schnaubte.
Die Tanten standen jetzt außerhalb der Schutzkreise, Gwyneth hinter Lily, Grace hinter Rose.
„Und Lily kann tun, was sie tun muss“, vervollständigte Gwyneth zufrieden.
Lily fühlte die Blicke ihrer Familie auf sich. Sie schloss die Augen, holte tief Luft und ließ den Tiger frei. Sofort fühlte sie noch mehr als zuvor: Sorge von Gwyneth, Zärtlichkeit von Grace, grenzenloses Vertrauen von Gray und die Entschlossenheit, alles zu geben, was sie hatte, von Rose. Das ist es, dachte Lily und hob die Lider.
„Tiger“, flüsterte Grayson. „Deine Augen glühen.
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