Elfenschwestern
nicht das Schlimmste denken.
„Ich werde es ihr jetzt sagen“, entschied Lily.
Jolyon berührte mit einem Finger ihre Wange. „Ich hol dir das Telefon.“
Erst sprach Lily ihrer Mutter auf den Anrufbeantworter für den Fall, dass Kate vor ihr zurück in das leere Appartement kommen sollte. Dann wählte Lily mit ruhiger Hand die Nummer des Bluebell Cottages. Ihr Herz klopfte ganz gleichmäßig, während sie auf das Tuten im Hörer lauschte.
„Was?“
Es war Rose, die wie erwartet ungehalten ins Telefon knurrte.
Lily öffnete den Mund, um zu lachen oder ihr eine gepfefferte Antwort zu geben – und begann stattdessen zu ihrem eigenen Schrecken zu weinen.
Die Stimme am anderen Ende veränderte sich sofort. „Lily?“, fragte Rose drängend. „Liebe Lily. Was ist los? Was ist passiert?“
Aber Lily konnte nicht antworten, bekam nicht einmal mehr genügend Luft, um vernünftig zu atmen.
„Lily!“, brüllte Rose in den Hörer. „Sprich mit mir!“
Lily schloss die Augen, riss sich zusammen.
„Es ist Gray“, erklärte sie, während ihr weiter heiße Tränen die Wangen hinunterrannen. „Er ist verschwunden. Aus seinem Bett. Eben erst. Auf seinem Kissen lag eine weiße Rose. Das ist nicht normal, Rose. Sie haben ihn, sie sind ihn holen gekommen. Nach all den Jahren. Ich bin mir ganz sicher.“
Einen Moment blieb es still in der Leitung.
Dann: „Ich komme. Ich komme sofort.“
Lily lächelte durch die stille Tränenflut. „Das wusste ich.“
„Ich nehme den ersten Zug“, versprach Rose. „Hörst du, Lily? Ich bin bald da. In ein paar Stunden.“
„Okay“, sagte Lily und fühlte wie das Wissen, die Sorge um Gray und die Angst vor den Fey mit ihrer Schwester teilen zu können, ihr das Herz ein wenig leichter machte. „Und ich bin da, wenn du ankommst.“
6
So we grew together,
Like to a double cherry, seeming parted,
But yet an union in partition. ~ So wuchsen wir zusammen,
Einer Doppelkirsche gleich, zum Schein getrennt,
Doch in der Trennung eins.
Lily schlief mit dem Geruch von Wolfspelz in der Nase. Sie irrte durch beängstigende Träume, aber der Schatten des Wolfes begleitete sie getreulich. Er bewahrte sie davor, in einem Moor zu versinken, das nach Einsamkeit stank, und er rettete sie davor, sich in einem kahlen Herbstwald zu verirren, durch den ein Hauch von Verzweiflung wehte.
Als Lily erwachte, verblassten die Traumbilder im milchig weißen Morgenlicht, doch der Moschusgeruch des Wolfes blieb. Für einen Moment war die Welt in Ordnung – dann kehrten mit einem Schlag die Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück. Lily krümmte sich unter ihrer Wucht zusammen. Sie atmete flach und schnell und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.
Jolyon. Er lag schlafend neben ihr. Wie ist denn das passiert?, dachte Lily verwirrt. Ja, sie wusste noch, dass sie geredet hatten, leise und lange. Er gegen das Kopfende des Bettes gelehnt, sie neben ihm zusammengerollt, das Telefon zwischen ihnen. Das gelbe Licht der Leselampe hatte eine Insel in der Dunkelheit geschaffen. Lily sah auf. Die Lampe brannte noch. Sind wir beide einfach eingeschlafen?, fragte sie sich. Wahrscheinlich.
Sie betrachtete ihn. Sein Gesicht bestand nur aus Kanten und Ecken. Sogar im Schlaf wirkte er stark und entschlossen, dachte Lily. Und ein bisschen einschüchternd. Seine Wimpern aber waren dunkel und dicht wie die eines Mädchens und seine Lippen sahen genauso weich aus, wie sich sein Wolfshaar angefühlt hatte. Es war so tiefbraun, dass es fast schwarz wirkte. Lily spürte bis in die Fingerspitzen den Wunsch, wieder die Hände darin zu vergraben, kämpfte jedoch gleichzeitig mit einer furchtbaren Scheu.
Hoffentlich wacht er nicht auf, dachte Lily. Sie musste sich wahrscheinlich dringend die Zähne putzen und hatte sicherlich völlig verfilzte Locken. Wie spät war es denn überhaupt? Oh je, hatte sie etwa Rose verpasst? Nein. Lily atmete tief durch. Jolyons digitaler Wecker zeigte an, dass es erst kurz vor acht war. Rose würde nicht vor zehn in Kates Appartement auftauchen und nach Gray fragen. Gray. Nicht daran denken, befahl sich Lily, erneut von Schmerz überwältigt. Denk an etwas anderes.
Jolyons Zimmer. Jetzt sah Lily es in all seinen Einzelheiten. Vorsichtig, um Jolyon nicht zu wecken, schwang Lily die Beine aus dem Bett. Eiskalt war der Boden unter ihren nackten, bettwarmen Füßen, eiskalt war die Luft. Lily schlang die Arme um den Oberkörper, trat zu Jolyons Schreibtisch und beugte
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