Elfenschwestern
du mir sagt: „Was bildest du dir eigentlich ein, Kleine? Das war doch nur ein Kuss.“
„Vergiss es“, sagte sie, schob ihn ein Stück zur Seite und rutschte von der Fensterbank. „Kannst du mir deinen Studentenausweis leihen? Ich muss in die Bibliothek.“
Er wich einen Schritt zurück, nur einen, aber es fühlte sich an, als stünde er am anderen Ende des Flurs. „Deswegen hast du mich angerufen?“, fragte er heiser.
„Ja“, sagte Lily und hörte zu ihrer Erleichterung ihre Schwester Rose aus ihrer Stimme, schön und kalt wie Schnee.
„Verstehe.“ Mit seinem Gesicht stimmte etwas nicht. Lily ertrug es nicht länger, ihn anzusehen. Sie wollte nur noch weg von ihm.
„Also gibst du mir deinen Ausweis?“, drängte sie.
Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum? Was willst du da drin?“ Er ruckte mit dem Kopf Richtung Bibliothek.
Sie zögerte.
Da packte er sie bei den Schultern, so fest, dass es fast wehtat. „Du willst weiter schnüffeln, oder? Bist du verrückt geworden, Tigerlily? Vom Dach zu fallen, reicht dir wohl nicht. Aber das nächste Mal ist vielleicht niemand da, um dich aufzufangen.“
„Was soll mir denn passieren, während ich mir Ahnentafeln anschaue?“, fragte Lily und rettete sich mit Spott: „Willst du mich etwa davor bewahren, dass ich mich am Papier schneide?“
Er knirschte hörbar mit den Zähnen. „Ich sage dir, du hörst sofort auf damit und bringst dich gefälligst in Sicherheit.“
„Und ich sage dir, ich lasse mir nichts befehlen, Jolyon Wilde“, sagte Lily so hochmütig sie konnte.
Er verlor die Beherrschung. „Das solltest du aber!“, brüllte er. „Du hast ja überhaupt keine Ahnung, was du da tust!“
Das tat so weh, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie zwang sie zurück. Dann hielt er sie eben für ein kleines dummes Mädchen. Egal! „Wenn du mich nicht sofort loslässt“, warnte sie, „reiße ich dich wirklich in Stücke.“
Er ließ sie los, als habe er sich verbrannt. „Danke für die Warnung“, sagte er steif, drehte sich um und ging.
Lily brauchte ziemlich lange für den Weg zurück zu Kates Appartement. Sie wankte so benommen die Flure entlang, dass sie tatsächlich ein paarmal falsch abbog. Als sie schließlich den Wohnungsschlüssel ins Schloss steckte, zitterten ihre Finger immer noch.
Sie hatte gehofft, dass Rose und Kate bei Eileen waren, wollte jetzt einfach allein sein. Doch im Flur fand sie Roses Stiefel und den grünen Tweedmantel. Einen Seufzer unterdrückend, betrat sie das Wohnzimmer.
Rose lag zusammengerollt zwischen Grays Kissen, drückte seine Decke an ihre Brust und heulte.
Lily erschrak. Rose vergoss nie Tränen. Nie! Sie hatte nicht geweint, als sie mit sieben zusehen musste, wie ihr Vater seine Sachen packte. Und sie hatte auch nicht geweint, als sie sich mit neun das Bein brach. Grays Entführung war sie bis jetzt mit Wut statt Trauer entgegengetreten, nun aber zeigte sie rot geränderte Augen und kauerte inmitten von unzähligen nass geweinten Taschentüchern.
„Ach, Rosie.“ Lily sank neben der Schwester nieder.
„Hier, sieh dir das an“, schniefte Rose und streckte ihr ein Stück Papier entgegen. „Nichts als einen blöden Brief hat sie uns dagelassen. Ich hasse sie, nein, schau mich nicht so an, ich meine das ernst. Ich habe gedacht, wenigstens auf sie könnten wir uns verlassen. Aber das stimmt nicht. Sie ist genau wie er: Geht einfach auf und davon und lässt uns alleine zurück.“ Mit einem Aufschluchzen vergrub Rose das Gesicht in den Kissen.
Lily schlang gleichzeitig einen Arm um die Schwester und pflückte den zerknitterten Briefbogen aus ihrer rechten Hand.
Meine Mädchen,
stand da in Kates schlanker, geschwungener Handschrift.
Ich habe nicht viel Zeit, darum hier nur das Wichtigste: Ich liebe Euch. Ich liebe nichts so sehr wie Euch und Euren Bruder. Denkt immer daran.
Jetzt muss ich fort, um Gray zu suchen. Und wenn ich ihn gefunden habe, wird alles gut. Das verspreche ich. Ihr müsst nach Hause fahren. Bitte tut das. Dort seid Ihr sicher. Das wart Ihr immer. Vergesst das nicht.
In Liebe
Mum
Lily ließ den Brief sinken.
Rose hob den Kopf. „Und, was sagst du?“
„Rosie, sie lässt uns nicht im Stich, sie versucht, Gray zu retten, da steht es doch.“
„Wieso ohne uns?“
„Sie will, dass wir in Sicherheit sind“, erinnerte Lily sie. „Das steht da. Und das hat sie uns doch auch gestern gesagt.“
Rose setzte sich auf. „Aber was ist, wenn ich will, dass sie in
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