Elfenschwestern
Findlingsmauern waren nur schemenhaft zu erkennen, die schwarzen Moore tarnten sich ganz in Weiß. Am Horizont ragten die Silhouetten kahler Bäume auf.
Dorthin lenkte Duncan den Wagen. Er sah Lily von der Seite an. „Wie alt bist du eigentlich inzwischen, kleine Fairchild?“
„Sechzehn“, sagte Lily automatisch. „Fast siebzehn. Ein Jahr jünger als Rose. Solltest du das nicht wissen?“
„Keine Ahnung. Sollte ich? Mir kommt es jedenfalls vor, als hätte ich dir gestern erst im Kino eine Riesentüte Popcorn gekauft.“
„Ja, damit du mit Rose in Ruhe knutschen konntest.“
„Stimmt.“ Er lachte. „Wann war das?“
„Ich war zwölf. Das weiß ich noch, weil ich Rose damals so beneidet habe.“
Er schenkte ihr wieder dieses bedächtige, vielsagende Grinsen. „Honey, wenn ich das gewusst hätte.“
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. Er zwinkerte und musste unwillkürlich lächeln.
Die Bäume kamen näher. Duncan bremste seinen Ford ab, um in die Zufahrtsstraße zum Cottage einzubiegen. Eine letzte Kurve und da war es: Grannys kleines Steinhaus mit den Sprossenfensterchen und der himmelblau lackierten Vordertür. Der Bauerngarten, der im Sommer mit Blütenpracht und Farbenreichtum prunkte, schlief seinen Winterschlaf. Doch der Wald, der hinter dem Haus begann, schien nach Lily zu rufen.
Lily runzelte die Stirn. Der Wagen hielt knirschend.
„So! Da wären wir“, sagte Duncan, stieg aus und stapfte zum Kofferraum.
Lily schloss die Augen und konzentrierte sich. Suchte in sich die Tochter der Fey, wie sie es auf dem Dach der Bibliothek getan hatte. Erst dann öffnete sie die Beifahrertür, schwang die Stiefel in den Schnee und stand auf.
Es traf sie mit voller Wucht. War es der Wind in der Weide am Fluss? War es der Fleeting Jim selbst? Lily wusste es nicht, sie wusste nur, dass jemand rief. Laut. Und eindringlich.
Stopp!, befahl sie lautlos, aber das Rufen hörte nicht auf. Wie sollte sie sich denn da noch auf irgendetwas anderes besinnen können? Wütend hielt sich Lily die Ohren zu. Es half ein bisschen.
Duncan neigte fragend den Kopf, als er an ihr vorbeiging, sagte aber nichts. Er trug ihre Einkäufe bis zur Haustür. Er hätte sie ihr auch weiter getragen, doch anstatt ihn hereinzulassen stand Lily noch immer wie angewurzelt neben dem Auto.
„Frierst du gerne?“, erkundigte er sich laut.
Sie ließ die Hände sinken und lächelte gequält. „Manchmal schon“, gestand sie. „Jetzt gerade versuche ich nur ein bisschen Mut zu sammeln. Du kannst mich ruhig hier stehen lassen.“
„Nimm’s mir nicht übel, aber ich warte, bis du drin bist.“
Lily nicke. „Okay.“ Sie kam heran, schloss auf und trat über die Schwelle. An einem normalen Tag wäre sie einfach in den Flur gestürzt, hätte ihre Tasche auf den Stuhl neben der Kommode fallen lassen, ihren Mantel über den Garderobenständer geworfen und „Gray!“ oder „Rose!“ oder – zwischen Freitag und Montag – auch „Mum!“ gebrüllt. Dabei wäre sie auf einem Fuß in die Küche gehüpft, weil sie sich von dem anderen gerade den Stiefel zog, und hätte sich sofort wohlgefühlt. Geborgen. Willkommen. Und sie hätte sich nicht darüber gewundert, denn das Cottage war immerhin ihr Zuhause. Heute aber hatte Lily die Tochter der Fey hervorgeholt. Und die dachte: Da ist doch noch etwas anderes.
Es war, als ob das Gefühl der Geborgenheit in den Wänden selbst steckte. Kann das sein?, fragte sich Lily. Kate hat gesagt, wir wären hier sicher, sicherer als irgendwo sonst. Kann es sein, dass Granny noch mehr über Schutzriten wusste, als uns klar war?
Duncan dicht hinter sich, trat Lily vom schmalen Flur in die Küche.
Der Anbau, der sich an die Ostseite des Cottages duckte, hatte früher einen Stall beherbergt. Heute standen Herd, Spüle und Kühlschrank, ein altes Küchenbüffett und ein großer Eichentisch mit gescheuerter Platte darin. Die Tür, durch die noch in Grannys Jugend Ziegen nach draußen gewandert waren, führte inzwischen zu kleinen Kräuterbeeten. Lily sah hinaus. Kniehohe Buchsbaumhecken trennten dort im Sommer Schnittlauch von Zitronenmelisse, jetzt waren Pflanzen und Terrasse im Schnee versunken. Die Wiese dahinter lag unberührt. Nur ein einsames Reh war darübergestakst. Der Wald jenseits rief noch immer nach Lily.
Lily beschloss zu antworten.
„Duncan“, sagte sie. „Ich gehe Granny besuchen.“
Er sah sie an, als sei sie verrückt geworden.
Sie wollte nichts erklären, sie hatte es plötzlich
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