Elfenschwestern
sich zog, lehnte sie ihren kleinen dunklen Kopf an Kates rotblonden.
„Meine Mädchen“, sagte Kate leise. „Die Menschen fürchten, was anders ist und was sie nicht verstehen. So ist das.“
Sie mögen mich ja fürchten, dachte Lily, als sie jetzt durch den Schneewald schritt. Aber ich, ich darf mich nicht fürchten vor dem, was ich bin.
Sie begann zu laufen. Da war plötzlich so viel Energie in ihr, die herauswollte. Als wäre es der Tiger, dachte Lily. Der Tiger in mir, der endlich erwacht.
Sie fühlte das Spiel ihrer Muskeln, die Kraft, die in jedem ihrer Sätze steckte. Die Bäume flogen an ihr vorüber, als sie durch den Wald jagte. Als könnte ich ewig so laufen, dachte Lily. Und stoppte jäh.
Am Waldrand stand jemand. Direkt unter den knorrigen Apfelbäumen stand er sehr aufrecht und sah ihr entgegen.
Wie das wilde Tier, das sie war, lauerte sie geduckt auf seine nächste Bewegung.
„Tiger, Tiger“, sagte Jolyon heiser.
Lilys Nasenflügel bebten. Wolfsfell und Wolle. Der Geruch erfüllte sie mit Sehnsucht.
„Tyger! Tyger! Burning bright in the forests of the night“ , rezitierte Jolyon, ohne seine Augen von ihren zu wenden. Er streckte ihr beide Hände geöffnet entgegen. Es war eine entwaffnende Geste und alles, was Lily brauchte. Sie richtete sich auf, trat auf ihn zu und legte ihre Finger in seine.
Eine Weile standen sie einfach so unter den verschneiten Apfelbäumen und schwiegen.
„Ich habe eine Raubkatze durch den Wald laufen sehen“, sagte Jolyon fast ehrfürchtig. „Die Sonne ließ ihr Fell glühen“, er berührte ihr Haar. „Streifen von Licht und Schatten kreuzten ihren Weg. Wie passend für einen Tiger, findest du nicht?“
Lily schluckte schwer, als sie das Bild vor sich sah, das er von ihr entwarf.
„Du hast gesehen, was ich bin“, flüsterte sie. „Willst du nicht davor davonlaufen?“
Er lachte ein leises, tiefes Lachen, das sie innerlich beben machte. Dann hob er ihre kalten Finger an seine Lippen. „Tiger“, sagte er, als er den Handrücken ihrer Linken küsste, „Lily“, fuhr er fort, als er die Knöchel ihrer Rechten küsste. „Ich wusste schon vorher, dass du das außergewöhnlichste Mädchen bist, das ich je getroffen habe.“
Lily schaute lieber hinunter auf ihre von seiner Berührung kribbelnden Hände als hinauf in seine stahlblauen Augen. „Weil ich halb Mensch, halb Elfe bin“, vermutete sie.
„Nein.“ Er kam näher. „Weil du du bist.“
Überwältigt blickte Lily auf. Und da in seinem Gesicht sah sie, was sie fühlte: Sehnsucht. Quälend und echt.
Dass er seine Gefühle nicht versteckte, bewegte sie und ließ sie etwas tun, was sie noch nie getan hatte. Sie löste ihre Finger von seinen, umfasste seinen Mantelaufschlag und hob ihm ihr Gesicht entgegen. Ihr Atem und sein Atem vermischten sich, als er seine schönen Lippen zu einem Lächeln verzog. Und während aufjubelnd ein Windstoß durchs Geäst fuhr und von den Apfelzweigen Schnee auf sie herunterrieselte, küsste Tigerlily Jolyon Wilde.
Wenn es jemals einen Moment gegeben hatte, in dem Lily die Zeit anhalten wollte, der hier wäre es gewesen. Er dehnte sich aus, während Jolyon sie fest in die Arme nahm und Lily ihre Hände in seinem dichten Haar vergrub. Und verstrich. Und all die Dinge, die gesagt, und all die Fragen, die gestellt werden mussten, drängten zurück an die Oberfläche. Nur mit Bedauern ergab sich Lily darein.
„Warum bist du gekommen?“, fragte sie dicht an seinem Mund.
„Willst du die Wahrheit wissen?“, fragte Jolyon zurück, ohne seinen Kopf auch nur einen Millimeter zu bewegen. „Deshalb.“ Er küsste sie einmal schnell. „Aber ich hätte mit unbewegter Miene erklärt, dass ich hier bin, um dir etwas zu bringen, wärst du mir nicht so prompt in die Arme gesunken.“
„Ich bin nicht …“, begann sie. Und verlor sich dann in den Tiefen seiner blauen, blauen Augen. „Doch“, seufzte sie, „bin ich schon.“
Er lachte. Und weil ihre Körper sich so eng aneinanderschmiegten, dass keine Schneeflocke dazwischengepasst hätte, konnte Lily es fühlen. Es klang wie ein glückliches Lachen und es war ein glückliches Gefühl. Lily wollte viel, viel mehr davon.
„Kommst du mit rein?“, fragte sie.
„Wenn ich darf“, antwortete er.
„Du musst“, sagte sie.
Hand in Hand überquerten sie die Wiese.
„In deinem Haus sitzt ein Mann“, informierte Jolyon sie, als Lily ihre Finger nach der Küchentürklinke ausstreckte.
„Bitte?“ Lily zog ihre Hand
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