Elfenschwestern
sein Ernst. Oder?
„Was hat dich dann hergeführt?“, fragte er weiter.
Lily zögerte noch immer.
„Vergiss nicht, wenn du mir antwortest, darfst du mich auch etwas fragen“, erinnerte er sie. „Brauchst du noch ein bisschen Hilfe?“
Sie starrte ihn an. Kein Lächeln lag mehr auf seinen Lippen, die schwarzen Augen blieben unergründlich.
Lily nickte.
„Bist du hier, weil du deinen Bruder suchst?“
Lily zuckte zusammen. „Ja“, sagte sie heiser.
Er atmete hörbar aus. „Okay. Jetzt bist du dran.“
Da musste Lily nicht lange überlegen. „Wo ist mein Bruder?“, stieß sie hervor. „Sag mir, wo Grayson ist! Bitte!“
Er war mit seiner Antwort genauso schnell bei der Hand wie sie zuvor mit ihrer Frage: „Ich weiß es nicht.“
Lily stieß einen Laut aus, in dem gleichzeitig Wut und Frustration lagen. „Aber dann weißt du, wer es weiß, oder?“, rief sie. „Du warst auch in London, als Gray verschwand. Da lag eine weiße Rose auf seinem Kopfkissen, verdammt! Willst du mir erzählen, dass das Zufall war?“ Ihre Hände bewegten sich fast ohne ihr Zutun, flogen nach vorne, packten Alistair bei seiner Steppweste und schüttelten ihn.
„Stopp!“, befahl er mit einer Stimme, die durch den ganzen Raum schallte.
Erschrocken hielt Lily inne. Einen Herzschlag lang glaubte sie in seinem Gesicht zu sehen, wie sich widerstreitende Emotionen bekämpften, dann schaute Alistair auf ihre Finger hinunter, die sich um den wattierten Stoff krampften, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er legte seine Hand auf ihre.
Lily zuckte zusammen. Warum fühlte sie sich plötzlich wie das Kaninchen in der Falle?
„Es scheint mir fast so“, sagte Alistair, „als hätten wir zwei noch eine Menge Gesprächsbedarf, meine Hübsche. Wenn du jetzt mit mir ausreiten gehst, könnte es sein, dass ich in Plauderstimmung gerate. Ansonsten wird mich wohl der Kummer über deine Zurückweisung in trauerndes Schweigen stürzen. Was meinst du? Kommst du jetzt mit oder nicht?“
Lily war kurz sprachlos. „Das ist Erpressung.“
Seine schwarzen Augen glitzerten, während er seine warmen Finger mit ihren kalten verflocht. „Stimmt. Und? Wie entscheidest du dich?“
19
Thorough flood, thorough fire
I do wander every where,
Swifter than the moones sphere;
And I serve the Fairy Queen. ~ Durch die Flut und durch das Feuer
Eil ich wie ein Echohall,
Schneller als der Mond im All,
Dien der Königin der Feen.
Lily hatte noch nie in ihrem Leben auf einem Pferd gesessen.
„Willst du mit mir reiten?“, erkundigte sich Alistair. „Ich nehme dich vor mir in den Sattel.“
„Auf gar keinen Fall“, erklärte Lily bestimmt.
Alistair lachte laut heraus. „Ich wiederhole mich ja nur ungern: Aber auch dieses Angebot hat bis heute noch kein Mädchen ausgeschlagen.“
„Vielleicht fragst du immer die falschen.“
Er legte nachdenklich den Kopf schief und betrachtete Lily, wie sie mit unordentlich auf dem Hinterkopf zusammengerafften Goldlocken, in ihren Wildlederstiefeln, dickem Pulli und den in Windeseile aus dem Koffer gerissenen engen Jeans neben ihm stand. „Ja, vielleicht.“
Lily wandte den Blick ab, hob die Schultern hoch und vergrub sich bis zur Nasenspitze in Kates weichem Schal. Was tat sie hier eigentlich? Welch verrückter Einfall, sich Alistair und diesen Pferden auszuliefern! Wenn er wirklich etwas über Graysons Verschwinden wusste, warum um Himmels willen sollte er es ihr verraten? Lily fand Alistair York, Earl of Rosebery, undurchschaubar. Die Pferde allerdings waren großartig.
Lily streckte eine Hand aus und streichelte vorsichtig den Hals der grauen Apfelschimmelstute mit der welligen schwarzen Mähne, in deren Box sie standen. „Na, du Schönheit“, sagte sie leise.
„Wenn du Duchess ordentlich begrüßen willst, lass sie mal an dir schnuppern“, sagte Alistair, bevor er auf die lange Stallgasse hinaus-trat und in Richtung der Sattelkammer verschwand. „Sie muss dich riechen können.“
Das leuchtete Lily ein. Ihr selbst gefiel der Stallgeruch über alle Maßen gut. Das schwere Aroma der Pferde, das nach Sommer duftende Heu in den Futterkrippen und das Leder der Sättel und Zaumzeuge, die Alistair gerade inspizierte.
Lily bot Duchess ihre Handfläche dar. Erst streifte das weiche Maul der Stute ihre Finger, dann schnaubte Duchess, als gefiele ihr, was sie da roch. Lily lachte. Sie streichelte der Stute die Stirn und lehnte sich an ihren warmen Hals. „Es ist eine Schande, dass du dem gruseligen
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