Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin - Paradigi, J: Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin
Anderswelt – so sah das zumindest aus – gebracht hatte? Übte er damit nicht Verrat an seiner Königin? Oder war es in ihrem Auftrag geschehen? Das konnte Nadja nicht glauben; so hatte Bandorchu sich bei ihrer Begegnung nicht verhalten und auch nicht den Befehl dazu gegeben. Also blieb nur die erste Möglichkeit, die ebenso unwahrscheinlich schien: Nach allem, was er für seine Königin getan hatte, hinterging ihr treuester Verbündeter sie? Das ergab doch keinen Sinn!
Unmissverständliches Magenknurren machte ihr ein ganz anderes Problem deutlich. Wie sollte sie längere Zeit jenseits der Weltengrenze überleben? Sie wusste von den Regeln, die ihr verboten, in der Anderswelt etwas ohne Gegenleistung anzunehmen. Wer dieses Gebot brach, konnte nicht mehr zurückkehren in die Menschenwelt. Auf ihrer Rettungsmission für Rian war sie dem Hungertod nur knapp entkommen.
Erneut strich sie über die Wölbung ihres Bauches und flüsterte: »Na, das ist mal wieder ein Schlamassel, was? Aber so schnell geben wir nicht auf.«
Wie zur Antwort breitete sich ein Gefühl der Wärme in ihrem Unterleib aus, wurde aber sofort durch den heranwehenden Duft von Honig boykottiert, den ihr Magen mit noch lauterem Knurren quittierte. Zur Ablenkung begann Nadja, im Kreis zu gehen. Immer wieder blickte sie zu der Stelle, an der die schmale Treppe außen am Turm hinabführte. Es gab keine Tür oder Wache, die ihr den Weg versperrte. Sie konnte den Turm jederzeit verlassen. Aber die Aussicht auf ein klärendes Gespräch mit dem König hielt sie zurück, auch wenn die Warterei an ihren Nerven zehrte.
»Der Maharadscha bittet zum Tee«, erklang die glockenhelle Stimme der zarten Elfe schließlich erneut. Und wieder musste Nadja blinzeln, um die Gestalt vor dem azurblauen Himmel wahrnehmen zu können.
»Wie heißt du?«, fragte Nadja, als sie ihr vorsichtig die Stufen hinabfolgte – eine Hand an der Mauer, den Blick ängstlich in die Tiefe gerichtet. Die Treppe besaß kein Geländer, und die junge Frau fühlte sich nicht ganz schwindelfrei.
»Man ruft mich Silinia, Sahiba.«
»Und ich heiße Nadja. Du kannst die förmliche Anrede getrost weglassen«, sagte Nadja, die nichts von Hierarchie und übertriebener Unterwürfigkeit hielt.
»Verzeih, Sahiba, aber für solch eine Unhöflichkeit würde mir der Herrscher wohl den Kopf abschlagen lassen«, entgegnete Silinia so sanft, als wäre dies eine Selbstverständlichkeit.
Das sind ja tolle Aussichten
, dachte Nadja bei sich.
Ein weiterer machtbesessener Kerl, der meint, alle anderen müssten vor ihm kriechen. Anders bringt man es in der Anderswelt wohl zu nichts
. Sie seufzte. Das Verlangen, über andere zu herrschen, war ihr unverständlich. Natürlich brauchte eine Gruppe ab einer bestimmten Größe einen Führerstab, um sich zu koordinieren, aber das war nicht gleichbedeutend mit Unterwerfung.
Je näher sie dem Thronsaal kamen, desto offensichtlicher wurde ihr, dass Prunk und Reichtum für ihren Gastgeber eine große Rolle spielten. Jedes noch so unbedeutende Detail war aus den feinsten Materialien gearbeitet. Auf den glatt geschliffenen Marmorböden lagen kunstvoll gewebte Teppiche. Die Wände waren mit Malereien verziert. Eingearbeitete Edelsteine und Blattgold ließen die dargestellten Figuren und Szenen noch prachtvoller erscheinen. Jeder Türbogen und jeder Absatz trug Stuckdekor; sie sah Weinranken, Blumenkelche und immer wieder Fabelwesen aus der indischen Sagenwelt. Mehrarmige elefantenköpfige Wesen, Krieger in altertümlichen asiatischen Rüstungen, gekrönte Affen, schlangenhafte Gestalten und solche, die auf Kühen, Schildkröten oder Schwänen ritten.
Vor einer der vielen goldenen, mit Reliefen verzierten Türen, die bis hinauf zur meterhohen Decke reichten, hielten die beiden Frauen an, und zum ersten Mal sah Nadja Wachen an einem der Durchgänge. Genau wie der Palast wirkten auch sie überbordend ausstaffiert; mehr Ausstellungsstücke denn wirklich für einen Kampf gerüstet.
Silinia nickte den beiden männlichen Elfen zu, die unter dem aufwendig gefächerten Kopfputz angespannt nach vorne blickten. Auf ihre Aufforderung klopfte einer von ihnen gegen die Tür. Sofort glitten die schweren Flügel auseinander und gaben den Blick auf eine weitläufige Halle frei, die überraschend belebt war.
Links und rechts des auf den Thron zulaufenden Teppichs scharten sich kleine Grüppchen auf Sitzkisseninseln, plauderten, lachten und ließen sich allerlei Köstlichkeiten
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