Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin - Paradigi, J: Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin
davon zeugten, dass auch ihr Leben mit dem Einzug der Zeit in der Anderswelt ein Ende hatte.
Wie lange noch?
, fragte sie sich mit Bestürzung.
»Heilige Muttergottes, die Hexe ist von den Toten auferstanden!«
Ruckartig drehte sich Anne der Stimme zu, die von der Kirche her das morgendliche Idyll durchbrach. Ein feister Pfaffe in Soutane mit zu eng geschnürtem Piuskragen stand vor seinem Gotteshaus. Er war kalkweiß im Gesicht und reckte die kurzen Speckarme in den Himmel. Ein weiteres Déjà-vu. Und diesmal öffneten sich die Schleusen ihrer Erinnerung. Die gleiche Szene hatte sie nach ihrer Begegnung mit Paracelsus durchlebt. Ganz genau dieselbe!
Sie fasste sich an den Hals und spürte das noch vorhandene Narbengewebe über der Einstichstelle der Spritze. Sie war in der Zeit zurückgesprungen! Deshalb hatte sie die Verbindung zu Robert verloren. Er existierte noch nicht. Aber was bedeutete das für sie selbst? Musste sie die Jahrhunderte erneut durchwandern? Ihr Leben exakt wiederholen, um am selben Punkt in der Zukunft wieder herauszukommen? Oder gab ihr diese Reise die Chance, etwas zu verändern?
Wendepunkte aus ihrer Vergangenheit drangen an die Oberfläche ihres Bewusstseins. So viele Möglichkeiten, die gut gegeneinander abgewägt werden mussten. Jeder Zug hatte einen Gegenzug zur Folge. Reaktion folgte auf Aktion – zu einem bestimmten Prozentsatz kalkulierbar, aber keinesfalls berechenbar. Normalerweise.
Mit ihrem Wissen über die Zukunft konnte sie Einfluss auf das globale Weltgeschehen nehmen – bei den Menschen und vielleicht in der Anderswelt. Aber ob sie das auch wollte, war eine andere Frage. So viel Verantwortung ging mit diesem seltsamen Schicksalsschlag einher. Doch die erste konkrete Situation, die ihr einfiel, war der Abend im »King’s Arms« in York, als sie diesen Kerl so verloren hatte dasitzen sehen. Robert. Eine leichte Beute, wie sie fälschlich geglaubt hatte.
Und dann der Auftrag von Bandorchu. Anne überlegte. Sollte sie diese Entscheidungen wiederholen oder in eine andere Richtung abbiegen? Die Konsequenzen solcher Veränderungen vermochte selbst sie sich nicht vorzustellen. Alles war mit allem verbunden, beeinflusste sich. Ein Geben und Nehmen, das trotz vieler Nöte dennoch ein gewisses Gleichgewicht aufrechterhielt. Der bloße Versuch, die Geschehnisse in andere Bahnen zu lenken, brachte ihren Verstand an den Rand des Zusammenbruchs.
Erst als lautstarkes Gebrüll zu ihr durchdrang, fiel ihr die Begegnung mit dem erschrockenen Pfarrer wieder ein, und sie blinzelte den monströsen Gedankenwirrwarr beiseite.
Ein bulliger Kerl mit einer Schaufel in der erhobenen Hand stürmte auf sie zu. Wohl einer der Knechte, die der Geistliche nach dem ersten Schreck zu Hilfe gerufen hatte. Schon damit hatte sich die Geschichte unwiderruflich verändert. Denn damals – irgendwann Anfang des siebzehnten Jahrhunderts – hatte Anne nicht grübelnd innegehalten, sondern war nach ihrer Entdeckung Hals über Kopf geflüchtet.
Auch nun blieb ihr nur der Rückzug, denn ihre Kräfte waren fast aufgebraucht. Also raffte sie das Jutekleid zusammen, hob es an und eilte über die Wiese und quer durch den Obsthain. Dort, so erinnerte sie sich vage, gab es einen schmalen Durchlass in einer hüfthohen Dornenhecke, die das Kirchengelände umzäunte. Dahinter lagen unbestellte Felder und ein kleines Wäldchen, in dem sie zumindest damals einen Unterschlupf und Hilfe gefunden hatte.
Aber diesmal hatte Anne zu lange gewartet. Bevor sie die rettende Lücke erreichte, kam ein weiterer Knecht mit Spitzhacke angelaufen und schnitt ihr den Weg ab. Verzweifelt schlug sie einen Haken, wich zur Seite aus, lief die Hecke entlang und suchte nach einem zweiten Schlupfloch. Doch statt des erhofften Durchgangs sah sie den anderen Knecht auf sich zukommen, die Schaufel wie einen Speer mit beiden Händen vor dem Körper gehalten.
Sie hatten sie in die Zange genommen. Was für eine Wahl blieb ihr da noch? Abrupt blieb sie stehen. Mit ihren nackten Füßen suchte sie festen Halt zwischen den Grasbüscheln und beeilte sich, die Lautformel zu sprechen, während sie ihre gespreizten Finger aneinander presste. Ihre Erscheinung flackerte für einen Augenblick, dann erfasste ein Luftwirbel ihr Kleid. Es zerrte am Stoff und sog ihr langes schwarzes Haar hinauf in den Himmel. Stoßwellen pulsierten zu ihren Füßen aus dem Boden, liefen ihren Körper entlang und entluden sich Funken sprühend. Wort für Wort, Welle um Welle.
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