Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin - Paradigi, J: Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin
Morgengrauen gewährte sein Erbe ihm ein paar Stunden als Mensch. Anne hatte Lorecs wahres Ich in einem solchen Moment gesehen. Ein Mann mit traurigen Augen, markantem Kinn, dickem grauschwarzem Lockenhaar und breitem Rücken. Ein beeindruckender Jüngling mittleren Alters mit einem überraschend sanften Charakter – galant, ja geradezu poetisch und unendlich bemitleidenswert.
Wie bei jedem Fluch gab es der Legende nach für ihn einen Weg der Erlösung: die wahre Liebe einer Frau. Wäre Anne ein bisschen mehr Elfe oder gar Mensch gewesen, wäre sie ihm nach dieser Offenbarung vielleicht sogar in Liebe verfallen. Aber als vampirische Muse reichte es am Ende nur für eine Freundschaft. Lorec hatte ihr damals geholfen, dem mit Forken und Schaufeln bewaffneten Mob, der sich an ihre Fersen geheftet hatte, zu entfliehen. Eine Idee, die auch jetzt hilfreich sein mochte.
»Mein guter alter Freund, ich werde dir alles erklären. Zuerst müssen wir aber an einen sicheren Ort. Also dräng den Jammer beiseite und führe mich in dein Versteck.«
Eine Weile verharrte Lorec auf der Stelle und blickte sie an. Groll mischte sich mit dem ewigen Funken Hoffnung. Er mochte es als gottgegebenes Zeichen sehen oder auch nur als willkommene Abwechslung in einem Dasein, das von Einsamkeit und Schmerz geprägt war. Wie auch immer, er entschloss sich, Anne zu vertrauen. So wie schon einmal.
In seinem Bau – einer für die Bedürfnisse von Mensch und Tier ausgebauten Höhle in den ins Land hineinreichenden Ausläufern des Hohe-Tatra-Gebirges – erzählte Anne ihre Geschichte. Immer wieder stellte Lorec sie dabei auf die Probe. Er fragte nach Dingen, die nur er ihr erzählt haben konnte, bis er irgendwann genug gehört hatte.
»Dann will ich unsere Freundschaft von Neuem besiegeln«, sagte er mit knurriger Stimme, legte sich ihr zu Füßen, drehte sich auf den Rücken und bot ihr die verletzliche Unterseite dar.
Anne lächelte über so viel Theatralik. Dann kniete sie sich neben ihn und streichelte sanft über seinen aufgewölbten zottigen Brustkorb. »Ich danke dir, mein Freund. Wie es aussieht, brauche ich deine Hilfe mehr denn je. Denn ich bin das raue Leben dieses Zeitalters nicht mehr gewohnt.«
»Dann ist die Zukunft besser?«, fragte Lorec und rollte sich zur Seite, um sie ansehen zu können.
Anne antwortete zögerlich. »Besser, ja … aber auch komplizierter.«
Speichel rann zwischen Lorecs Raubtierzähnen hindurch und tropfte über die ausgefransten Lefzenränder. Der Wolfsmann begann zu hecheln. »Werde ich … Wie sieht mein Leben in deiner Zeit aus?«, brachte er schließlich stockend hervor.
Er wollte wissen, ob sein Fluch jemals gebrochen würde, erkannte Anne und schalt sich dafür, das Thema in diese Richtung gelenkt zu haben. Die Erinnerung an die schmerzhaften Ereignisse, die sich um ihren Freund rankten, strömte mit Wucht in sie zurück. Und auf einmal verstand sie den Zusammenhang.
Fünf Jahre nachdem sie sich in der Vergangenheit kennengelernt hatten, hörte Lorec eine Geschichte über eine Frau, die angeblich unsterblich und sogar mächtiger als der Tod selbst war: Elisabeth Báthory. Mit seinem närrischen Glauben an ein Ende seines Leids machte er sich auf den Weg zu ihr. Er hoffte auf Rettung, doch stattdessen lief er in sein Verderben. Von ihrer Unerschrockenheit ihm gegenüber beeindruckt, verfiel er der Gräfin und ihren blutrünstigen Spielen. Er wurde zu ihrem kriechenden Schoßhündchen, satt gefressen, ausgenutzt und geprügelt, bis die Bestie in ihm seine menschliche Seite verschlang.
Anne hatte mehrfach versucht, ihn wachzurütteln, doch ohne Erfolg. Schweren Herzens wendete sie sich zu ihrem eigenen Schutz von ihm ab und verfolgte sein Schicksal nur mehr aus der Ferne.
Selbst als Elisabeth Báthory 1611 nach einem spektakulären Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt und in ihrem eigenen Burgturm eingemauert worden war, hielt seine Verblendung an. Statt zu flüchten, streunte Lorec vor ihrem Gefängnis umher, bis man ihn fing und zur Belustigung der Habsburger Gefolgschaft in der Hauptstadt gegen andere wilde Tiere kämpfen ließ.
Die Wärter quälten ihn, und eines Tages geriet er angeblich bei einer der spärlichen Fütterungen in solche Raserei, dass er die mächtigen Ketten, die man um ihn geschlungen hatte, sprengte. Er riss seine Bewacher in Fetzen, floh aus dem Kellerverlies und entkam mit einem mächtigen Satz über die Stadtmauer in die Freiheit.
»Ich kann dir nicht sagen, wie
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