Elfenzeit 4: Der Löwe von Venedig - Schartz, S: Elfenzeit 4: Der Löwe von Venedig
weiteren seltsamen Gestalten abschrecken? Sie waren nicht unüberwindlich, und Nadja war kein wehrloses Lamm. Sie musste sich daran gewöhnen, dass ihr Leben nie mehr in gewohnten Bahnen verlaufen würde. Und sie musste sich selbst mehr vertrauen.
Sie sollte …
Nadja stutzte und ging ein paar Schritte zurück. Da war ja noch ein Seitengang, am Ende eine Steinmauer und eine alte Holztür. Der Zugang zu einem Turm.
12 Der Turm
Der Aufgang in den Turm war schmal und schraubte sich steil nach oben. Nadja kam sich vor wie im Märchen, aber das passte genau zum Conte, der sich weigerte, seine Vergangenheit zu verlassen. Wahrscheinlich lebte hier oben eine gefangene Prinzessin. Oder David.
Die Chancen standen eins zu vier; doch dieser Turm hier war der einzige, der in der Nähe der privaten Gemächer des Conte lag. Gewiss würde er keine weiten Wege auf sich nehmen, um zu einem Stelldichein zu kommen oder sich mit seinem Gefangenen zu beschäftigen.
Die Wände waren völlig kahl und nur roh verputzt, kein Marmor, kein Prunk. Nadja hätte sich nicht gewundert, wenn am Ende der Treppe ein Drache gelauert hätte. Zumindest hätte sie jemanden von der Security erwartet.
Doch es war überhaupt niemand da. Anscheinend hatte sich nie ein betrunkener Gast bis hier hinauf gewagt. Und wenn doch – dann verschwand er wahrscheinlich, wie die übrigen Opfer, oder der Vergissmein-Trank tat seine Pflicht. Nadja zweifelte nicht an der Wirkung des unbekannten Gebräus, denn sonst hätte der Conte diese ganz unverblümten, unverhüllten Entführungen niemals wagen können. Wenn sich jeder der Gäste nur an eine wundervolle Party ohne Einzelheiten erinnerte, konnte die Polizei keine verwertbaren Zeugenaussagen bekommen.
Fakt war also: Jeder wusste, dass Piero Personen entführte, doch man konnte ihm nichts nachweisen. Und trotzdem drängten die Leute jedes Jahr darauf, an seiner Party teilnehmen zu dürfen; vielleicht war das gerade der Reiz des Verbotenen. Viele Mitglieder der venezianischen Oberschicht mochten ähnliche Langeweile empfinden wie andere Reiche auf der Welt, vor allem die Kinder, die mit goldenen Löffeln geboren wurden. Möglicherweise war es für diese Leute eine Art »Russisches Roulette«, um wenigstens einmal das Gefühl eines Risikos zu haben, einen Nervenkitzel, den sie sonst nicht erhalten konnten. Nadja war sicher, dass die Opfer sehr sorgfältig ausgewählt wurden, um ihr Verschwinden begründet zu wissen.
Die Polizei konnte präventiv nicht einschreiten und musste zusehen, wie weitere Menschen verschwanden. Das erschien absurd und unglaubwürdig, doch Nadja wusste es besser. Mütter, die jedes Jahr ein Kind bekamen und trotzdem nur zwei oder drei lebende Kinder im Haushalt hatten, konnten oft über ein Jahrzehnt morden, bevor sie angeklagt wurden; Stalker und erfasste Serienmörder, sie alle schlüpften häufig durch die Maschen des Gesetzes, wenn es zu Beginn nur Indizien gab. Im Fall des Conte gab es nie Beweise, weil es keine Leichen gab, kein Blut oder Ähnliches. Kein gängiges Motiv war ersichtlich und es gab keine Verbindung zwischen den Opfern. Die Polizei hatte nichts, worauf sie aufbauen konnte. Und der Conte war sicher, solange der Schutz um Tramonto funktionierte.
Nadja schloss nicht einmal aus, dass diese perversen Wahnsinnigen Kannibalismus betrieben und die Knochen zu Mehl verarbeiteten, um jedes noch so geringe Stück Beweis auszuschließen. Wenn also jemand spurlos verschwand, hatten die Gerichte keine Chance. Selbst wenn es jedes Jahr geschah, über Jahre hinweg.
Das bedeutete zugleich etwas anderes. Es musste auf der Insel noch irgendwelche Räumlichkeiten geben, die vor den Augen der Öffentlichkeit gut versteckt lagen. Dorthin musste der Conte die Entführten bringen, wenn die Polizei auf Tramonto ausschwärmte. Ein perfektes Versteck, und kein Ausweg für die Opfer von der Insel der Serienmörder.
Nadja schüttelte es. Heitere Aussichten für sie, wenn der Conte sie erwischte.
Die Treppe endete an einer alten Holztür. Wie alle anderen Türen war auch sie nicht verschlossen. Nadja war darüber halbwegs enttäuscht, denn sie hatte sich entsprechend vorbereitet: In ihrem Gepäck fand sich ein kleines Arsenal an selbst gebastelten Drähten als Dietriche, sowie Haarnadeln und Kaugummi, Tesa, kleine Kartonstückchen, ein Schweizer Messer, Streichhölzer und eine Taschenlampe. Alles ganz normale Gebrauchsutensilien, die niemanden misstrauisch machen würden, falls man die Tasche
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