Elfenzeit 5: Schatten des Totenreiches - Schartz, S: Elfenzeit 5: Schatten des Totenreiches
Richtung. »Folge der Straße bis zum Markt, mein Kind. Alles Gute auf deinem Weg.« Mit kühlen, langen und sehr schlanken Fingern strich sie Nadja über die Wange bis hinunter zum Kinn, hielt es kurz fest und wandte sich dann abrupt um. Ohne ein weiteres Wort verschwand sie hinter der Hecke.
Eine Richtung also. Das war mehr, als Nadja noch vor einer halben Stunde gewusst hatte.
Sie schulterte ihren Beutel und ging zur Straße.
Je weiter sie sich vom Baumschloss entfernte, desto weniger kümmerten sich die Bewohner des Landes um sie. Irgendwann wurde sie gar nicht mehr beachtet, so als gehörte sie schlicht zum Bild der Gegend.
Hatte man sich erst einmal an das schattenlose Zwielicht gewöhnt, war es angenehm, durch die Anderswelt zu wandern – umso mehr, als die Füße den Boden gar nicht berührten. Fast hätte Nadja glauben können, irgendwo im bayerischen Voralpenland zu sein, weit weg von allen Touristenströmen und Flurbereinigungen. Sie sah sanfte grüne Hügel, durchsetzt mit einzelnen Bäumen oder Wäldern, und viele mäandernde Bäche. Ab und zu kam sie an eine Kreuzung, hielt sich jedoch unbeirrt geradeaus, immer weiter auf dieser Straße. Manchmal zog sie an Feldern oder Weiden vorbei, auf denen einfarbige, zumeist rote Kühe und Pferde grasten. Hoch oben kreisten Greifvögel, in den Büschen und Bäumen lärmten die Tiere. Nadja wusste, dass es in dieser Welt auch skurrile und fremdartige Gegenden gab, doch waren sie eher außerhalb von Earrach zu finden – oder in abgeschiedenen Randgebieten, in welche man sich normalerweise nicht verirrte.
Doch auch dieses Gebiet war der jungen Journalistin fremd. Das Gras wirkte auf den ersten Blick vertraut, wies bei näherem Ansehen aber andere Strukturen auf. Oft verzweigten sich die Halme und verbanden sich mit den unmittelbaren Nachbarn zu einem dichten Webteppich. Blumenblüten entpuppten sich aus der Nähe als winzige fleischfressende Wesen, die Chamäleons glichen. Scheinbar fest verankertes Wurzelwerk von Bäumen hob sich plötzlich und schlug mit peitschenartigem Knall gegen Schuhwerk und Waden, wenn man ihm zu nahe kam. Auf der Straße war es sicher, ihr lehmiger Boden war festgestampft und gut befestigt.
Nadja gewöhnte sich allmählich an ihre ungewöhnliche Fortbewegung und kam flott voran. Durch den ewig gleichen Sonnenstand hatte sie kein Zeitgefühl und wusste nicht, wie lange sie bereits unterwegs war. In einer Senke, wo drei Flüsse zusammenliefen, entdeckte sie einen Marktflecken. Hunderte Verkaufsstände, Wagen, Tische und selbst gezimmerte Buden standen ungeordnet und in bunter Vielfalt nebeneinander, zahllose Schnüre spannten sich an den Seiten und über die Wege, an denen Gewürze, Hühner, Schmuck, Tücher und seltsame Dinge hingen. Der Geruch der verschiedenen frischen Waren drang in Nadjas Nase, und ihr Herz pochte aufgeregt, wohingegen ihr Magen plötzlich munter wurde und sich mit erwartungsvollem Knurren meldete. Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte; an Fanmórs Hof hatte es nichts gegeben –
natürlich
nicht.
Nicht nur Flüsse, sondern auch Straßen liefen hier zusammen, auf denen lebhafter Verkehr in alle Richtungen herrschte. An der letzten Kreuzung musste auch Nadja sich in das Getümmel einfügen und wurde mehr oder minder Richtung Markt geschoben. Niemand kümmerte sich um sie, alle waren damit beschäftigt, auf Waren und Wertsachen aufzupassen oder erste Geschäfte zu tätigen. Allerdings mussten die Elfen
etwas
bemerken – unwillkürlich wichen ihr alle aus, um nicht auf ihren Schatten zu treten. Selbst Wesen, die völlig in ein Gespräch vertieft waren und gar nicht herschauten, machten plötzlich einen Bogen.
Ein wüstes Durcheinander an Lärm schlug ihr entgegen. Die unterschiedlichsten Tierlaute, Marktschreier, Gesang und Unterhaltungen, alles versuchte sich gegenseitig zu übertönen. Wie man in diesem Chaos überhaupt noch den Überblick behalten sollte, war Nadja ein Rätsel.
Außerdem fragte sie sich, wie es weitergehen sollte. Die Blaue Dame hatte Nadja den Weg hierher gewiesen, doch nun war sie auf sich allein gestellt und musste herausfinden, wo es weiter nach Annuyn ging. Aber wie? Am besten besah sie sich erst, was es überhaupt gab. Natürlich alles an Nahrungs- und Heilmitteln, Haushaltsgegenständen, Ackerbaugeräten und Waffen. Aber auch Schmuck, Tand, Nippes, Kleidung, Tuch. Kunstwerke ... und magische Gegenstände fielen ihr ins Auge. Letztere waren ihr vielleicht schon
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