Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
gegen deine Leuten in Numantia einen Groll noch gegen diese Römer.«
»Dann bist du wahrlich nicht bei Sinnen.« Er ergriff meine ausgestreckte Hand und zog sich hoch. Nach wie vor beäugte er mich misstrauisch. »Denn es gibt nur diese beiden Seiten. Wer gegen uns ist, ist für die Römer – und umgekehrt.«
»Ich verstehe.« Ich hörte meinen Magen grollen. »Nun, dann bin ich so frei und entscheide mich für jene Seite, die mir Gastfreundschaft gewährt und ihr Essen mit mir teilt.«
»Von mir aus kannst du den Römern hinterherlaufen und um ihr saures Brot betteln. Sie werden dich mit Pfeilen spicken, noch bevor du ihre Wagen erreicht hast. Ich denke nicht, dass sie nach der Niederlage, die wir ihnen zufügten, große Lust haben, mit jemandem zu teilen. Oder aber du kommst mit mir und gibst dich mit Schafsknochen zufrieden. Numantia stand wochenlang unter Belagerung. Die Vorratskammern sind leer. Mir ist es einerlei, was du tust. Solange du mir nicht in die Quere kommst ...«
Der Mensch reagierte ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. In der Anderswelt hätte jeder Elf sein Mahl mit mir geteilt, selbst in der ärgsten Not.
Wobei, wenn ich’s mir recht überlege: Die Elfen kannten keine Not.
»Wie ist dein Name, Mann?«, fragte ich ihn.
»Coecho, Sohn des Agoz.« Er griff nach seinem Schwert und hob es vorsichtig auf, seine Blicke stets auf mich gerichtet. »Und du bist ...?«
»Fiomha. Einfach nur Fiomha.«
»Und woher kommst du, Fiomha?«
»Ich habe eine lange Reise hinter mir. Sie führte von einer Welt zur anderen.« Damit deutete ich auf den steinernen Kreis, der uns umgab.
Coecho stutzte plötzlich und hielt die Luft an. Sein vernarbtes Gesicht, größtenteils unter einem unregelmäßig gewachsenen Bart verborgen, wurde blass. »Ein Anderer!«, sagte er mit zitternder Stimme. »Es ist so lange her, dass einer von euch den Schritt hierher tat ...«
»Ein Anderer? Ich bin ein Elf ...«
»Aus der Anderswelt.«
Ich war erstaunt. »So? Du kennst die Anderswelt?«
»Es gibt Geschichten darüber. Solche, die in langen Winternächten erzählt werden.«
Er wirkte verwirrt und brachte mir auch Ehrfurcht entgegen, aber keinesfalls in dem Ausmaß, das ich erwartet hätte.
»Habe ich mir einen Platz an deiner Tafel verdient?«, fragte ich abermals.
Coecho lachte. »Welche Tafel? Welcher Platz? Komm mit, Fiomha aus der Anderswelt.« Er erholte sich rasch von seiner Überraschung und hieb mir ordentlich auf den Rücken, dann überprüfte er die Schärfe seiner Klinge. »Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen. Danach kannst du mich in die Stadt begleiten.«
Ich schauderte. Meine Vorstellungskraft reichte, um zu wissen, was er mit seinen Worten meinte. Krieg und Kampf waren Handwerke, die man auch in der Elfenwelt beherrschte.
Seit langer Zeit gab es Tore und Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Welten. Wissen wurde ausgetauscht, manch guter und auch schlechter Einfluss war aus dem Menschenreich in die Anderswelt gelangt. Andererseits hatten sich immer wieder Elfen in anderen Sphären auf Abenteuersuche begeben und waren zu Göttern oder heiligen Wesen geworden. Die Furcht der Menschen vor dem Unbekannten hatte zudem oftmals gereicht, um aus dem Nichts Gottheiten zu formen, die schließlich in der Elfen-oder gar in der Schattenwelt nach Zuflucht suchten, bevor sie gänzlich in Vergessenheit gerieten. Es existierte ein unsichtbares, aber dichtes Geflecht, das die verschiedenen Welten miteinander verband.
Allmählich, so hatten mir die Lehrer meiner Heimat beigebracht, trockneten diese Verbindungen aus. Die Menschen emanzipierten sich und schienen ihre eigenen Wege gehen zu wollen. Wir Elfen hingegen verloren unser Interesse an den rohen und primitiven Nachbarn, die darüber hinaus so viele unterschiedliche Emotionen entwickelten, mit denen wir kaum etwas anzufangen wussten.
Ich wartete ab, bis Coecho sein schreckliches Handwerk erledigt hatte. Grinsend zeigte er mir seine Eroberungen: silberne Gemmen, einen fein verzierten Schwertknauf, zwei Beutel voll Silbermünzen und einen Ring, der noch am Finger seines ehemaligen Besitzers steckte.
»Ihr seid feine Leute, so hat man mich gelehrt«, sagte er, plötzlich ernst geworden. »Ihr wisst mit den Grobheiten des Kriegshandwerks nichts anzufangen. Aber bevor du verurteilst, was ich hier mache, solltest du wissen, mit welcher Grausamkeit die Römer gegen uns vorgehen. Sie vergewaltigen unsere Frauen und Kinder, sie foltern die Männer und
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