Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
Schamanin wusste ganz genau, wie sie die Stimmung am besten anheizte.
»Die Römer brachten seltsame Götter mit sich, und eine andere Lebensart. Nicht schlechter oder besser als unsere, eben
anders.«
Sie kreischte laut auf. »Haben wir sie daran gehindert? Nein! Aber sie zwingen uns, die eigenen Sitten zu vergessen und zu vernachlässigen. Sie betrachten uns als niedere Geschöpfe, die man bedenkenlos auspressen kann und deren Tributzahlungen in einer fernen Stadt namens Rom einem kleinen Haufen satt gefressener Pinkel zugutekommen. Damit von dort aus noch mehr Kriegszüge finanziert werden, die weitere Völker unter die Herrschaft Roms bringen. So lange soll dies weitergehen, bis der gesamte bekannte Weltenkreis einem einzigen Volk Untertan ist!«
Männer, Frauen und Kinder waren aufgesprungen. Sie taten ein paar Schritte vor, spuckten ins Feuer, sprachen Schmähungen und Flüche aus. Ein Halbwüchsiger pinkelte in die Flammen, ein anderer ritzte sich den Arm auf und ließ Blut zu Boden tropfen.
Diese archaischen Stammesrituale waren fester Bestandteil des numantischen Lebens. Nun, verbunden mit viel saurem und schwerem Wein, heizten sie ihre Kampfeslust an. Ich sah, wie Schwüre gesprochen und Brüderschaften geschlossen wurden. Eine weiß gewandete Druidin mit Lorbeerkranz legte den Arm eines jungen Kriegers auf den einer älteren Frau. Sie waren damit verheiratet. Ein gutes Dutzend Jünglinge wurde mit Ehrenbezeugungen überhäuft in die Männerwelt entlassen. Sie durften unter der großen Auswahl an jungfräulichen Mädchen, geschlechtsreifen Frauen, erfahrenen Witwen und alten Vetteln für diese eine Nacht nach dem großen Sieg auswählen ...
Jene naturgegebene Ordnung ihres Stammes, die die Schamanin in ihrer langen Rede beschworen hatte, löste sich immer mehr in Chaos auf. Ich schätzte, dass sich mehr als tausend Menschen versammelt hatten, fast die Hälfte der Einwohnerschaft Numantias. Rom war besiegt, zumindest für den Moment, und meine keltiberischen Gastgeber scherten sich nicht mehr um irgendwelche Regeln des Anstandes.
»Darf ich dir zu Diensten sein?«, fragte mich ein blutjunges Mädchen von vielleicht dreizehn Jahren. Das Gesicht war puppenhaft und von wächserner Blässe. Die Wangen glühten vor Aufregung, und ein knospender Busen zeichnete sich unter dem dünnen Stoff des Kleides ab.
»Nein danke«, lehnte ich ab. Und nachdem ich die Enttäuschung bemerkt hatte, fügte ich hastig hinzu: »Ich habe einen Schwur geleistet, den ich unter keinen Umständen brechen darf. Verstehst du?«
Das Mädchen nickte erleichtert. »Schwüre sind gut«, sagte es altklug. »Sie festigen den Charakter.«
Mit einem erhaben wirkenden Kopfnicken verabschiedete sich das Kind und trat in den Kreis der Gleichaltrigen zurück. Eine grundlose Zurückweisung hätte es zweifelsohne in die Rolle einer Außenseiterin gedrängt. Ich musste mich vorsehen, wollte ich angesichts der komplizierten menschlichen Lebensweisen nicht von einem Fettnäpfchen zum nächsten taumeln.
Coecho nahm seine Frau an der Hand und verließ das Areal; Zurra war ein rassiges Weib, in deren füllige Haarpracht sich da und dort graue Locken geschlichen hatten. Sie wirkte glücklich und traurig zugleich. Vor wenigen Tagen hatte sie einen halbwüchsigen Sohn verloren; doch ihr Mann hatte die Kämpfe wie durch ein Wunder überlebt.
»Es ist schwer zu verstehen, nicht wahr?« Pieva, der Stammeshäuptling, rückte näher an mich heran. Er streichelte Cucurr, der die Berührungen des Fremden leise knurrend über sich ergehen ließ.
»Was meinst du damit?« Ich hatte ihn als wortkargen Kerl kennengelernt, der düster und distanziert wirkte.
»Die Menschen. Sie tanzen, obwohl sie trauern sollten.«
»Du redest, als wärst du keiner von ihnen.«
»Jetzt
bin ich einer. Doch in meinem früheren Leben jagte ich durch Earrach, Graifan, Cydhe und all die anderen Reiche der Elfen.«
»Du bist ... du warst ...«
Pieva grinste mich an, und ich sah wenige schwarze Zahnstümpfe und mehrere großflächige Entzündungsherde. »Kaum zu glauben, nicht wahr? Wobei ich zugeben muss, dass die Erinnerungen ziemlich verblasst sind.«
»Was hat dich hierher verschlagen? Was ist geschehen?«
»Nun, wie du sehen kannst«, er streifte das struppige Haar nach hinten und zeigte seine runden Ohren, »bin ich kein reinrassiger Elf, sondern ein Bastard.« Er kicherte. »Damit passe ich eigentlich perfekt zum Stamm der Avaker.«
Pieva erhob sich ächzend. »Komm mit
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