Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
mir. Wir wollen ein paar Schritte tun.«
Zögernd folgte ich ihm. Wir entfernten uns immer weiter vom Hauptplatz Numantias. Über eine einfache Leiter bestiegen wir die breite Außenmauer der Stadt. Dort herrschte seltsame Ruhe. In Abständen von mehreren Metern standen Wachen und starrten aufmerksam in die Dunkelheit der Nacht hinaus. Man durfte eine Rückkehr der Römer nicht vollends ausschließen. Die Avaker hatten gelernt, mit der Hinterlist ihrer Gegner zu rechnen.
»Als Halbblut war ich in der Elfenwelt nicht besonders gut gelitten«, erzählte Pieva mit leiser Stimme. »Ohne etwas dafür zu können, stempelte man mich als Außenseiter ab. Ich fand nur wenige Freunde. Vielen erschien es als Frevel, dass sich mein Vater mit einer Menschenfrau verbunden hatte. Mit einer
Primitiven
aus der schlimmsten aller Welten.« Er wandte sich einem der Soldaten zu, lobte dessen Wachsamkeit und gestattete ihm, aus seinem eigenen Weinschlauch einen tiefen Zug zu machen. Dann gingen wir weiter.
»Du bist reinblütig«, sagte Pieva. »Du kennst die Schwierigkeiten nicht, mit denen ich zu kämpfen hatte.« Verdrossen kickte er einen Stein über die Mauer hinab in die Schwärze. »Irgendwann konnte und wollte ich nicht mehr. Ich war es leid, mich für eine Entscheidung meiner Eltern verteidigen zu müssen. Also suchte ich über eines der Tore die Heimat meiner Mutter auf.«
»Und erging es dir hier besser?«, fragte ich neugierig.
»Ist das dein Ernst?« Pieva lachte freudlos. »Sieh dich doch um! Was erblickst du? Not, Leid und Elend. Verrückte Alte, die seltsame Rituale vollziehen. Kämpfe, die mit einer erschreckenden Erbarmungslosigkeit geführt werden. Am schlimmsten jedoch ist das Gefühl der
Endlichkeit
, dem man hier auf Schritt und Tritt begegnet. Alles, was du machst, zieht unwiderrufliche Konsequenzen nach sich.« Er blieb stehen und starrte in Richtung der Morgenröte, die sich im Osten zeigte.
Mich fröstelte. Erstmals in meinem Leben würde ich eine Sonne mit all ihrer Kraft zu Gesicht bekommen.
»Was erwartet mich hier?«, fragte ich nach einer langen Pause.
»Man hat dich auf die Erde verbannt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Du wirst unglaublich leiden. Du wirst Dinge sehen, die mit nichts vergleichbar sind. Die Gemeinheiten der Menschen scheinen von einer ... Qualität zu sein, die du von der Anderswelt nicht kennst. Und du wirst lernen müssen, dich anzupassen, wenn du nicht untergehen willst.«
»Kannst du mir nicht wenigstens ein bisschen Mut machen?«
Pieva sah mich an. »Alles, was ich bis jetzt sagte,
sollte
dir Mut machen. Denn nur aus den negativen Erlebnissen kannst du die Kraft schöpfen, die schönen Dinge schätzen zu lernen.«
»Ich verstehe nicht ...«
Er packte mich am Arm und zog mich weiter. Wir marschierten nun die Südseite des Mauerwerks entlang. »In der Elfenwelt findest du genauso Gemeinheiten und Hinterlist, Kampf und Grausamkeit. Vielleicht sogar in einer wesentlich größeren Intensität als hier bei den Menschen. Doch wir Elfen nehmen diese Dinge nur gedämpft wahr. Sie scheinen keine Rolle zu spielen, weil wir ein endloses Leben führen, wenn wir das wollen. Weil wir uns in Gleichgültigkeit flüchten und nichts allzu sehr an uns heranlassen.«
Abermals blieben wir stehen. Pieva hieß mich, still zu sein. Ein reibendes Geräusch erklang.
»Grashüpfer«, sagte er leise. »Die Vorboten des neuen Tages. Manchem Menschen sind sie heilig, und man muss ihnen ein paar Gedanken opfern, bevor man das Tagwerk beginnt.«
Immer mehr Tierchen fielen in das Zirpen ein, bis ich meinte, inmitten eines vieltausendköpfigen Orchesters zu stehen.
Erst nachdem sich die Tierchen ein wenig beruhigt hatten, gingen wir weiter. Frühe Sonnenstrahlen zeigten sich am Horizont und vertrieben morgendliche Nebelwolken.
»Du musst den irdischen Hass auskosten, bevor du die wahre Liebe begreifst«, sagte Pieva leise. »Lerne den Schmerz kennen. Dann weißt du, wie es ist, Ruhe und Besinnlichkeit zu schätzen.«
»Das hört sich nicht besonders aufregend an.«
»Ist es aber. Du wirst merken, wovon ich spreche, sobald es so weit ist.«
Stumm gingen wir weiter. Rings um die Stadt, über die sich selige Ruhe gelegt hatte. Nur vereinzelt schleppten sich Frauen und Männer an die Arbeit. Alles holte tief Atem, um Kraft für die nächsten Tage zu finden. Leichen mussten verbrannt oder verscharrt, die Früchte des Waldes und der Felder endlich eingebracht werden.
Licht kroch übers Land, näherte sich uns
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