Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
ihre Kranken vor dem Tod retten ...«
»Tu es nicht!«, bat mich Pieva. »Die Menschen würden beginnen, dich und mich zu fürchten. Sei vorsichtig bei allem, was du machst. Gestatte ihnen, Fehler zu begehen. Wenn wir die Herrschaft in Numantia übernehmen und die Vormachtstellung der Druiden brechen, sind wir nicht besser als die Römer.«
Das leuchtete mir ein – und dennoch widerstrebte es mir, den primitiven Methoden der Menschen in Agrarkultur, Heilkunde oder Kriegskunst Vorschub zu leisten.
Pieva fuhr fort: »Gerüchteweise habe ich erfahren, dass in Lusitanien, im Westen der Halbinsel Ibarra, ein großer Führer heranwächst. Er nennt sich Virao; die Römer heißen ihn Viriatus. Ihm wird zugetraut, die zerstrittenen Stämme zu vereinen und gegen die Usurpatoren anzuführen.«
»Würdest du ihm die Treue schwören?«
»Auf jeden Fall!« Pieva winkte ein paar junge Mädchen in sein Haus, in dem wir uns zum Zwiegespräch getroffen hatten. »Die Numantier werden einem wie Viriatus bedingungslos folgen.«
Die Mädchen verneigten sich nicht vor ihrem Häuptling, ganz im Gegenteil: Sie blieben stolz stehen und warteten so lange, bis wir ihnen zunickten. Erst dann entzündeten sie ein kleines Feuer und streuten getrocknete Blätter in die Flammen. Beißender Rauch entstand, der zum Husten reizte. Ich hatte dieses Zeremoniell oft genug miterlebt. Der seltsame Geruch wirkte für wenige Minuten verstörend, wandelte sich aber bald und erzeugte das Gefühl innerer Reinigung.
Die jungen Frauen trugen die Insignien von Druiden-Adepten: um den Hals gewundene Misteln, einen kurzen Stab aus Sandelholz und Blütenblätter, die täglich frisch um die hölzernen Sandalen gewickelt wurden. Eine von ihnen erkannte ich wieder; sie hatte mir in meiner ersten Nacht in Numantia angeboten, sie zu besitzen. Ihre Blicke trafen mich, doch sie gab durch nichts zu erkennen, ob sie sich noch an mich erinnerte.
»Gehen wir!«, sagte Pieva und rümpfte die Nase. Der Halbelf vertrug die Kräutermischung mehr schlecht als recht. »Wir müssen das Mauerwerk an der Ostseite aufbrechen und neuen Platz schaffen. Der Zuzug nimmt immer größere Ausmaße an.«
Der Stamm, der den Römern widerstanden hatte
, wuchs und wuchs.
Viriatus zog drei Monate später in Numantia ein. Seine Rüstung glänzte silbern, der Helm war mit bunten Federn geschmückt. Mit all dem Pomp ähnelte er mehr einem Römer als einem der dunkelhäutigen Lusitanier, die als besonders kampflustig galten und seit Jahrhunderten im Westen Ibarras siedelten.
Das Volk jubelte ihm mit mehr Begeisterung zu, als ich es jemals bei Pieva bemerkt hatte. Der Halbelf hatte recht gehabt: Nur ein Mensch konnte die Menschen führen.
Wir erwarteten Viriatus auf dem Hauptplatz. Musiker zupften erwartungsvoll an ihren Instrumenten, mehrere Trommler begleiteten den Einmarsch seines Trupps.
Der große Häuptling sprang elastisch von seinem Reittier und stellte sich breitbeinig vor uns hin. Er war gut und gern einen Kopf kleiner als Pieva und ich, selbst Coecho überragte ihn um eine Handspanne.
»Ihr seid also die beiden Wesen aus einem anderen Weltenkreis?«, fragte Viriatus mit sonorer Stimme.
»So ist es, Herr.« Pieva verneigte sich höflich. »Ich habe den Boden für dich bereitet. Es obliegt dir, die Ernte einzufahren. Wenn du es denn darauf anlegst, den Römern weiterhin Widerstand zu leisten.«
»Das tue ich.« Er nahm von Pieva die Insignien der Macht über Numantia entgegen: Mistelzweige, das geschnitzte Horn eines Narwals und einen fast faustgroßen Türkis, in dem sich milchig weiße Einschlüsse zeigten.
Dann drehte Viriatus sich dem Volk zu und reckte seine Hände in den Himmel. »Ich bin gekommen«, schrie er, »um die Stämme der Celtos und Ibarra zu vereinen! Um dafür zu sorgen, dass wir den verruchten Besatzern unserer Heimat mit aller Kraft entgegentreten.« Jubelgeschrei ertönte, und er wartete einen Moment ab, bevor er fortfuhr: »Die Zeiten sind vorbei, da sich einzelne Stämme gegen die Römer erhoben. Heute stehen wir geschlossen, und wir werden unseren Feinden zeigen, was es heißt, uns die Ehre und die Würde rauben zu wollen. So wahr ich Virao heiße – wir holen zurück, was uns gehört!«
Abermals antwortete ihm lautes Gebrüll. Es kam nicht nur von den Männern, sondern auch von Frauen und Kindern. Sie alle standen hinter ihm, dem Hoffnungsträger eines ganzen Volkes. Er gab ihnen Mut und Selbstachtung zurück, und er sprach die richtigen Instinkte in
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