Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
ihnen an. Ich erkannte, wie farblos Pieva und ich neben diesem klein gewachsenen Krieger wirkten.
»Wir ziehen uns in meine Hütte zurück«, flüsterte mir der numantische Häuptling zu. »Geben wir Viriatus die Möglichkeit, sich in seinem Ruhm zu sonnen. Wir müssen ihn ohnehin früh genug auf den Boden der Tatsachen zurückholen.«
Ja, das mussten wir. Denn unsere Späher in den römischen Befestigungen hatten mittlerweile in Erfahrung gebracht, dass auch auf der Gegenseite Geschöpfe der Elfenwelt im Einsatz waren.
Sie entstammten dem uralten Anderswelt-Volk der
Annuna
und hatten einst über ein kleines Gebirgsreich geherrscht. Als martialische Krieger hatten sie benachbarte Regionen mit Leid und Elend überzogen – um irgendwann festzustellen, dass ihre wahre Berufung in der Menschenwelt wartete. Die Menschen waren für ihre Botschaften ganz besonders empfänglich.
Also wechselten fünfzig von ihnen über und fanden auf dem mythenumwobenen Berg Du-Ka eine neue Heimat. En Eri Gal, Ereschkigal, Meslanta’ea und Lugalgirra waren die Namen ihrer ersten Erscheinungsformen gewesen. Sie hatten sich als Götter ausgegeben und bei den Menschenvölkern Hass gepredigt. Unter wechselnden Namen waren sie durch die Geschichte gezogen, hatten unter sich im Zeitenlauf ändernden Vorzeichen neue Pantheons besiedelt und gewaltige Heere gegeneinander gehetzt, um sich an Millionen von Opfern zu laben. En Eri Gal wurde zu Nergal, zu Zeus, zu Jupiter. Sumerische, babylonische, griechische und römische Reiche litten unter ihrer Willkür.
»Sie sind nicht mehr so viele, wie sie einmal waren«, sagte Pieva. »Vielleicht ein Dutzend der Annuna ist übrig geblieben. Manch einer ist seiner Überheblichkeit zum Opfer gefallen oder wurde von einem anderen mächtigen Wesen aus der Elfenwelt getötet.«
»Das sind immer noch mehr als genug vermeintliche Götter, um die Römer zu lenken.«
»Wir wissen, dass sich zwei von ihnen auf der Ibarra-Halbinsel befinden und sich dort verehren lassen: Sie nennen sich Bellona und Quirinus, Kriegsgötter, welche Heerscharen an Adepten mit sich führen. Die
flamen dialis
sind ihre zeremoniellen Priester und die
salii palatini
die Waffentanzpriester. Fanatische Anhänger der jeweiligen Gottheit, die von frühester Jugend an auf ihre Aufgabe vorbereitet wurden und nichts anderes im Kopf haben, als zu dienen. Sie stacheln die Römer auf, füllen ihre Generäle mit aggressionsfördernden Drogen ab und schüren durch böse Reden den Hass der Legionäre auf ihre Gegner.«
Ich hatte von den Annuna gehört. Auch in der Elfenwelt galten sie als Ausgestoßene. Sie hatten Bösartigkeit gesät und sich an den Schmerzen ihrer Opfer gelabt, ohne irgendwelche Grenzen zu kennen. Ihr Reich war längst vernichtet, das letzte Mitglied dieser Sippe getötet worden. Jene, die auf der Erde ihr Unwesen trieben, hatte man gewähren lassen. Wen kümmerte es schon, was bei den Sterblichen geschah?
Mich
kümmerte es seit Neuestem.
Seltsame Gedanken schossen mir durch den Kopf: Waren die Menschen von Beginn ihrer Schöpfung an so verdorben gewesen, oder trugen die Bewohner der Elfenwelt Schuld daran? Hatten
wir
die schlechtesten unserer Eigenschaften hierher verpflanzt und die Erde als unsere Spielwiese auserkoren?
Nun – ich war kein Geschichtsforscher und hatte auch keine Lust, mich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Es zählte das Hier und Jetzt. Wir mussten Kriegsrat halten und überlegen, wie wir Bellona und Quirinus Einhalt gebieten konnten.
Viriatus legte die Insignien seiner Macht ab und setzte sich zu uns an den schweren Eichentisch. Seine Kriegsherren taten es ihm gleich. Numantische Frauen kredenzten Wein und kaltes Fleisch, auf das sich die vom langen Fußmarsch ausgehungerten Männer sofort stürzten.
Nachdem jedermann lautstark aufgestoßen hatte, begann die Unterhaltung. Vom ersten Moment an riss Viriatus die Initiative an sich.
Er sagte: »Numantia ist zum Symbol für die Stämme der Celtos und Ibarra geworden. Die Stadt ist ein Fanal der Hoffnung. Ich habe keine Zeit für Schmeicheleien, deswegen sage ich’s freiheraus: Ich werde sie für meine Zwecke nutzen. Ob ihr es wollt oder nicht.« Er stand auf und wies auf eine über Holz gespannte Karte aus Ziegenleder, auf die mit Kohle die Umrisse des Landes und dessen wichtigste Städte gezeichnet worden waren. »Rom ist verletzbar. Die Legionen sind nach wie vor in Kämpfe gegen Karthago verwickelt. Irgendwann wird es ihnen zu viel sein, an
Weitere Kostenlose Bücher