Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
ältesten Gebäude im Umkreis vieler Kilometer dar. Glanz und Glorie waren längst vergangen, und der greisenhafte Besitzer kämpfte mit nachlassenden Kräften gegen die Widernisse der Witterungen. Wie auch immer der Römer es geschafft hatte, seinen Grund und Boden zu verteidigen – ich bewunderte ihn. Ich hatte in Erfahrung gebracht, dass ihm seine im Kindbett verstorbene Frau nur Töchter hinterlassen hatte. Kein männlicher Nachkomme bedeutete nach herrschendem Recht, dass die Blutlinie austrocknen und keiner der immer weniger werdenden Nachbarn, die sich als Römer sahen, zur Verteidigung des Landes zu Hilfe kommen würde.
Gaius Albus war der Name des Alten, hatte man mir zugetragen. Ich hatte es bislang vernachlässigt, ihm einen Besuch abzustatten. Sicherlich wusste er von den regen Sondierungsarbeiten im Lagunenbereich, und meine Kundschafter hatten ihm gewiss von unserem Vorhaben unterrichtet. Doch es konnte nicht schaden, dem alten Herrn persönlich die Aufwartung zu machen.
»Willkommen!«, grüßte Gaius Albus reserviert. »Ich bitte dich, Brot und Salz mit mir zu teilen.« Mit einer Handbewegung forderte er mich auf, sein Land zu betreten.
»Ich nehme die Einladung gerne an«, sagte ich ebenso förmlich, »und danke dir für deine Gastfreundschaft.«
Während ich in Begleitung Barchoils das schmiedeeiserne Tor durchschritt, nahm ich das Mauerwerk genauer in Augenschein. Einige Steine saßen lose, an manchen Stellen waren notdürftige Reparaturarbeiten vorgenommen worden. Dem Ansturm einer größeren Horde Barbaren waren die Einfassungen sicherlich nicht gewachsen.
»Ich habe selten Gäste in diesen Tagen«, sagte Gaius Albus. »Wir leben in unruhigen Zeiten.«
»So ist es, Römer.« Ich passte mich dem langsamen Tempo des Alten an. Seine Beine schmerzten sichtlich, und dennoch verzichtete er auf eine Sänfte. Konzentriert setzte er einen Fuß vor den anderen. Wahrscheinlich litt er unter Gichterscheinungen.
Wir begannen eine belanglose Unterhaltung, die uns helfen sollte, die Distanz von gut und gern zweihundert Metern bis zur Villa Urbana zu überwinden, ohne Gaius Albus’ Behinderung peinlich wirken zu lassen. Indes blickte ich mich weiter um; links von mir führten Wege zur
villa rustica
. Männer hüteten das abgemagerte Vieh, meist Ziegen und Schweine. Mehrere Frauen arbeiteten in einem ausgedehnten Gemüsegarten. Ich sah Leinpflanzen, die zur Gewinnung von Stoffen und Leinöl herangezogen wurden; dazu breite Beete. Der Römer hatte Thymian, Dill, Liebstöckel und Salbei angepflanzt. Am Waldrand standen junge Eichen, die bereits Früchte trugen, die an die Schweine verfüttert werden sollten. Zudem baute Gaius Albus Linsen, Knoblauch und Dinkel an. Offenbar bemühte er sich, die Seinen autonom zu versorgen und mit Schlachtfleisch ein bescheidenes Einkommen zu erzielen.
Wir stiegen ein paar Terrassenstufen hoch. Mein betagter Gastgeber keuchte vernehmlich, und ich war versucht, ihm meine Hand zu reichen. Doch ich wusste, dass ich ihn damit in seiner Ehre beleidigt hätte; also ließ ich es bleiben.
Zwischen Säulen, deren Verputz lange Risse aufwies, betraten wir den Vorraum und gelangten weiter in einen Innenhof, das
peristyl
, das wiederum von Säulenreihen umgeben war. Angenehme Kühle ging von einer kleinen
piscina
im Zentrum des Innenhofs aus. Das Wasser war teilweise von Wasserpflanzen bedeckt. Zierfische tauchten immer wieder an die Oberfläche, und eine kleine Schlange ruhte stockstarr im vom Sonnenlicht gebadeten Randteil des Beckens.
Gaius Albus führte uns zur Rechten in einen winzigen Raum, das
lararium
. Es diente der kultischen Verehrung der
lares loci
, der Schutzgeister des Hauses. Nattern räkelten sich im Schatten kunstvoll bemalter Marmorsteine, die in den Boden gerammt worden waren. Die Tiere galten in vielen Bereichen des ehemaligen Römischen Reiches als Glücksbringer und gern gesehene Gäste; so auch hier.
Der Alte murmelte ein paar Worte in sauberem Latein. Barchoil und ich wiederholten das Gebet und verneigten uns anschließend in Richtung prächtiger Wandfresken, die mythische Geschichten des Götterolymps dokumentierten.
Ich fühlte mich unwohl dabei, und ich mied den Blickkontakt zu Gaius Albus. Meine Augen mochten die Angst verraten, die ich angesichts der bildlichen Darstellung des römischen Olymps verspürte.
Mehr als hundert elfische Landsleute, die mir in der Lagune beim Aufbau der namenlosen Stadt halfen, gaben mir zwar ein gewisses Gefühl der
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