Elfenzeit 9: Im Bann der Dunklen Königin - Schartz, S: Elfenzeit 9: Im Bann der Dunklen Königin
der erste Stein von irgendwo aus der Menge.
Er traf den Fischer mit voller Wucht direkt an der Schläfe, und es gab ein dumpfes, zugleich knackendes Geräusch. Der Stein fiel zu Boden, und Tómas stand wie erstarrt, mit einem erstaunten Gesichtsausdruck. Die Leute hielten inne, als sie das Blut sahen, das aus der Kopfwunde hervorsprudelte. In die gelähmte Stille hinein fiel der Fischer ohne einen Laut.
Àtha stand da. Sie begriff nicht, was vor sich ging. Und sie verstand den Zorn der Menschen nicht, wusste nicht, was mit Tómas geschehen war, der völlig reglos dalag, den Blick starr zum Himmel gerichtet. Doch dann sah sie etwas aus seinem geöffneten Mund entweichen, hellweiß wie feiner Nebel.
Ein Ruck ging durch die Frau vom See. Schlagartig begriff sie, dass der Mann, der sie gerettet hatte, tot war, dass ihn gerade sein letzter Atemhauch verließ und noch etwas mit ihm ging, was wieder an ihren Erinnerungen rüttelte … und rasende Gier in ihr auslöste! Bevor sie wusste, was sie tat, kniete sie neben dem Toten nieder und presste die Lippen auf seinen Mund, saugte heftig. Sie merkte kaum, was um sie vorging, wie Unruhe in die Leute kam und die Stimmen wieder lauter wurden. Stimmen, die sie riefen.
Hexe. Hexe. Hexe
…
Àtha wusste nicht, was das Wort bedeutete, aber sie erkannte, dass ihr Leben bedroht war. Die Menge rückte näher, Hass und Angst standen in den Gesichtern. Doch sie konnte nicht aufhören zu saugen, es war noch nicht alles draußen. In wilder Gier machte sie weiter und fühlte gleichzeitig, wie Kraft in ihre Glieder zurückkehrte und sie sich …
körperlicher
fühlte. Etwas floss in sie hinein, was sie als leuchtend empfand, gallertartig wie … wie etwas, das sie kannte, aber keinen Namen dafür hatte. Etwas, das ihr das Leben zurückgab. Nur nicht die Erinnerung.
»Tötet sie!«, schrie jemand. »Sie hat Tómas umgebracht!«
Die Wut der Menge schlug immer höhere Wellen. Àtha war endlich fertig, es gab nichts mehr aus dem Fischer zu holen, und sie sprang auf. Als der erste Mann nach ihr greifen wollte, packte sie ihn am Arm und schleuderte ihn von sich. Mit einem Aufschrei prallte der Mann auf drei andere und riss sie mit sich zu Boden.
Stöhnend wich die Menge zurück, die Wut schlug wieder in Furcht um.
Àtha war selbst erschrocken über ihre Stärke. Sie hatte es nicht gewusst. Sie besaß mehr, viel mehr Kraft als ein Mann, und es hatte ihr keinerlei Mühe bereitet, sie anzuwenden. Wie kam das? Stammte es von dem, was sie gerade getrunken hatte und was ihre Lebenskanäle wie ein brennendes Licht durchzog?
Wieder flog ein Stein, doch Àtha sah ihn kommen, als wäre er unendlich langsam. Sie hatte keinerlei Mühe, ihm auszuweichen, und er traf eine Frau hinter ihr, die mit einem Aufschrei stürzte. Zum Glück hatte er sie nur an der Schulter getroffen, doch der Menge reichte das, um in Raserei zu geraten. Gesammelt wollten sie sich auf die Fremde stürzen.
Doch sie wurden gehindert. Eine laute, strenge Stimme erklang über ihren Köpfen, und ein großes, kostbar aufgezäumtes Pferd schob sich zwischen die Marktbesucher.
»Was geht hier vor sich?«
Die Leute wichen zurück, einige stammelten: »S… Sir Rupert«, andere nahmen die Hüte ab.
»Nun?«, fuhr der Landesherr streng fort.
Àtha wandte sich ihm zu, und sie sah, wie er bei ihrem Anblick zusammenzuckte. Aber in seinem Blick lag kein Wiedererkennen.
»Ich habe versucht, diesem Mann das Leben zurückzugeben«, antwortete sie im gleichen Englisch wie er und deutete auf den toten Tómas. »Ich wollte mit meinem Hauch sein Herz wieder zum Schlagen bringen.«
»Sie lügt!«, rief jemand.
»Sie ist eine Hexe!«, kam es von der anderen Seite.
Àtha sah den Herrn ruhig an. Sie hatte keine Angst, denn sie wusste bereits, dass er auf ihrer Seite war. Sie log zwar, aber wen störte das?
Sir Rupert mochte Mitte dreißig sein; seine schlanke Statur wurde von maßgeschneidertem feinem Stoff umhüllt. Haare und Bart waren überaus gepflegt, und seine grauen Augen strahlten die Ruhe und Überlegenheit des Patriarchen aus. Sein Wort war Gesetz, er entschied über Leben und Tod. Er konnte gelassen selbstbewusst sein, denn in seinem Gefolge befanden sich acht weitere Reiter und allesamt gut bewaffnet. Sir Rupert war ein Anglo-Ire, dessen Vater, ein einfacher Adliger, für seine militärischen Verdienste einen irischen Besitz erhalten hatte. Im Gegensatz zu den meisten Anglo-Iren hatte er Gälisch gelernt und eine Irin geheiratet,
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