Elfenzorn
konnte, ohne sich an den Flammen seiner Fackel zu versengen.
Der Tunnel führte in sanfter, aber anhaltender Neigung abwärts. Die Zahl der Lichtschächte nahm allmählich ab, und die Luft wurde im gleichen Maße schlechter. Zwei- oder dreimal kamen sie an Abzweigungen vorbei, doch da ihre Stiefel keine Einwände erhoben, gingen sie jedes Mal geradeaus weiter. Dann konnten sie es nicht mehr. Der Tunnel endete zehn Schritte vor ihnen an einer glatten Wand, und dazwischen gähnte einkreisrunder Schacht von guten zwei Metern Durchmesser, aus dem eine wenig Vertrauen erweckend aussehende Leiter ragte.
Lion gebot ihr mit einer ruppigen Geste, zurückzubleiben, kniete am Rand des Schachtes nieder und versuchte die Dunkelheit unter sich mit Blicken zu durchdringen, schüttelte aber dann nur den Kopf »Das können fünf Meter sein oder auch fünfzig«, sagte er besorgt. »Und diese sogenannte Leiter steht hier vielleicht schon seit tausend Jahren.« Er rüttelte mit der linken Hand an der Leiter, die daraufhin tatsächlich ein bedrohliches Ächzen hören ließ. Die Luft roch mit einem Mal durchdringend nach Staub. »Wahrscheinlich bricht sie zusammen, wenn ich sie auch nur schief ansehe.«
»Aber zurück können wir nicht mehr«, antwortete Pia. Außerdem bestanden ihre Stiefel darauf, dass sie nicht kehrtmachten. »Ich bin leichter als du. Vielleicht sollte ich zuerst hinabsteigen.«
»Damit ich zusehen darf, wie du dir den Hals brichst?« Lion schüttelte heftig den Kopf. »Prima Idee.«
»Du meinst, wenn ich hier stehen bleibe und dir dabei zusehe, wie du abstürzt, ist das besser?«, vergewisserte sich Pia.
Lion antwortete gar nicht, sondern reichte ihr wortlos die Fackel, griff mit beiden Händen nach der Leiter und begann ohne zu zögern hinunterzusteigen. Pia war so erschrocken, dass sie nicht einmal einen Laut hervorbrachte, sondern eine Sekunde lang einfach wie paralysiert dastand, bevor sie ihm mit einem einzigen schnellen Schritt folgte und sich vorbeugte, um ihm wenigstens zu leuchten.
Genau wie er es gesagt hatte, verlor sich das Licht schon nach kaum fünf Metern in der allgegenwärtigen Dunkelheit. Hier und da explodierte ein rotsilbernes Funkeln auf einer Silberader, und ihre eigene Nervosität gaukelte ihr Bewegung vor, wo keine war. Lion kletterte rasch, aber sehr vorsichtig nach unten. Zumindest auf dem Stück, das sie übersehen konnte, hielt die Leiter seinem Gewicht stand, und auch als er schließlich in die Schatten eintauchte und unsichtbar wurde, blieb das Geräusch vonzersplitterndem Holz aus. Zeit verging, sehr viel mehr, als ihr lieb war, dann drang Lions Stimme wie aus unendlicher Entfernung zu ihr herauf: »Alles in Ordnung. Sind ungefähr zehn oder zwölf Meter, und die Leiter scheint zu halten.«
Wie beruhigend. »Was ist dort unten?«, fragte sie.
»Ein Stollen«, antwortete Lion. »Nehme ich an. Wirf mir die Fackel runter.«
»Ich soll im Dunkeln die Leiter hinuntersteigen?«, ächzte Pia.
»Besser als mit einer Hand, oder? Nun mach schon. Und keine Angst – ich fange dich auf, wenn das Ding doch noch zusammenbricht.«
Pia warf die Fackel zu ihm hinab, hoffte, dass er sich zumindest ein bisschen die Finger verbrannte, und begann mit klopfendem Herzen nach unten zu klettern. Die Leiter hatte mühelos Lions Gewicht ausgehalten, der wahrscheinlich dreimal so viel wog wie sie, seine schwere Eisenrüstung nicht mitgerechnet, aber sie bildete sich trotzdem ein, das morsche Holz unter ihren Fingern zerbröseln zu fühlen, und atmete erleichtert auf, als sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen spürte.
Sie befanden sich in einem weiteren finsteren Stollen, dessen Wände direkt aus dem gewachsenen Felsen herausgemeißelt worden waren. Er war ein wenig breiter als der oben und ein gutes Stück höher, sodass die Flammen der Fackel die Decke nicht mehr erreichten. Trotzdem flackerte sie heftig, und erst bei diesem Anblick fiel Pia auch der Luftzug auf, der über ihre Wangen strich. Es war auch hier vollkommen dunkel, aber irgendwo in nicht allzu großer Entfernung musste es einen Ausgang geben. Wie sie ihr Glück kannte, dachte sie, ein Loch in einer spiegelglatten Felswand, unter der es eine Meile senkrecht in die Tiefe ging.
Dennoch marschierten sie in stummem Einverständnis los. Weitere Abzweigungen und Kreuzungen folgten, und je tiefer sie in den Berg eindrangen, desto mehr fragte sich Pia, ob sie ihr Ziel selbst mithilfe ihrer magischen Stiefel finden würde. Was,wenn es
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