Elfenzorn
Baumkronen über ihr nicht wie leuchtende Säure auflöste, waren Blätter und Äste von einem tiefen, fast schon unnatürlich satten Grün, und sie musste zudem einen wirklich guten Tag erwischt haben, denn es war nicht einmal sonderlich kalt. Vielleicht zum ersten Mal, seit sie – zumindest unter freiem Himmel – in Weiß-Wald war, betrachtete sie ihre Umgebung nicht durch den grauen Schleier ihres eigenen kondensierten Atems.
Vorsichtig setzte sie sich auf, fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht und verzog im ersten Moment angeekelt die Lippen, als sie etwas Klebriges auf ihren Wangen fühlte. Dann nahm sie die Hände herunter und erschrak, als sich das, was sie für Flammenhufs Sabber gehalten hatte, als erst halb getrocknetes Blut herausstellte. Wahrscheinlich war es nicht ihr eigenes, denn abgesehen davon, dass ihr Kopf immer noch dröhnte, als wollte er jeden Moment explodieren, hatte sie keinerlei Schmerzen. Aber der Anblick bewies ihr, dass außer dem Teil mit dem fliegenden Pferd wohl auch der Rest ihrer verrückten Erinnerungen wahr war.
Sie wischte sich die Hände am Oberteil ihre Skianzugs sauber, so gut es ging (womit sie ihn vermutlich endgültig ruinierte), blinzelte die letzten Schlieren vor ihren Augen weg und sah sich aufmerksam um. Rio de Janeiro war und blieb verschwunden, und an seiner Stelle erhob sich nun ein dichter Wald, der in drei Richtungen schon nach wenigen Schritten in immer dunkler werdendes Grün bis hin zu Schwarz überging und in der letzten Richtung, dort wo der Waldrand war, etwas heller blieb. Es gab Grün, so weit das Auge reichte, nicht nur über ihr. Flammenhuf schnaubte leise, aber sie konnte beim besten Willen nicht sagen, ob es eher mitfühlend oder ein bisschen schadenfroh klang. Oder vielleicht einfach nur ein Schnauben war.
Pia blieb mit geschlossenen Augen und festzusammengebissenen Zähnen stehen, bis die Dunkelheit hinter ihren Lidern aufgehört hatte, sich um sie zu drehen, und gab noch ein paar Augenblicke zu, in der Hoffnung, dass auch die hämmernden Kopfschmerzen ein wenig nachließen, aber das passierte nicht. Schließlich öffnete sie resigniert die Augen und starrte die nächsten geschlagenen zehn Sekunden lang die Hand an, mit der sie sich gegen den Baum gestützt hatte ... genauer gesagt die schwarzorange gestreifte, haarige Spinne, die auf ihren gut fünfzehn Zentimeter langen Beinen gemächlich über ihren Handrücken stakste und irgendwie so aussah, als wäre sie höchst verärgert darüber, dass ihr das Stretchbündchen den Weg in ihren Ärmel hinein verwehrte.
Bevor sie auf den Gedanken kommen konnte, die beeindruckenden Giftklauen unter ihrem Kopf einzusetzen, um sich ihren Weg freizugraben, erwachte Pia endlich aus ihrer Erstarrung, zog die Hand mit einem erschrockenen Ruck zurück und brachte immerhin genug Selbstbeherrschung auf, nicht hysterisch loszukreischen. Weder litt sie unter Arachnophobie, noch hatte sie jemals Verständnis für diejenigen ihrer Geschlechtsgenossinnen gehabt, die beim Anblick von allem, was mehr als drei Beine hatte, kreischend auf den nächsterreichbaren Tisch sprangen. Aber dieses Vieh ...
Pia tröstete sich damit, dass die Spinne ja immerhin hätte giftig sein können, begann den Handrücken heftig an ihrem Hosenbein zu schubbern und sah sich mit klopfendem Herzen um. Die Spinne war längst verschwunden und hatte mit Sicherheit sehr viel mehr Angst vor ihr gehabt als sie umgekehrt vor der harmlosen Mega-Arachnide, aber plötzlich war ihr, als würde es überall um sie herum im Unterholz krabbeln und huschen, und sie konnte regelrecht fühlen, wie sie von unzähligen winzigen Augen angestarrt und belauert wurde. Die Hand, über die die Spinne gekrochen war, begann zu jucken, dann auch die andere, und schließlich kribbelte und juckte es an nahezu jeder Stelle ihres Körpers, vor allem dort, wo es besonders unangenehm war. Flammenhuf schnaubte, undPia fielen gleich mehrere Gründe ein, warum sie beunruhigt sein sollte. Einer davon war, dass sie ganz und gar nicht mehr sicher war, dass Flammenhuf tatsächlich nur ein ganz normales Pferd (mit Flügeln) war; jedenfalls nicht mehr sicher genug, um vor den Augen des Hengstes einen Striptease hinzulegen. Ein anderer war die Tatsache, dass sie sich wohl endgültig der Erkenntnis stellen musste, nicht mehr in Rio zu sein. Wahrscheinlich auch nicht in WeißWald, aber mit ziemlicher Sicherheit irgendwo in der Elfenwelt – was nichts anderes bedeutete, als dass sie
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